Im Land der weissen Rose
Ich fange jetzt mit
dem Studium an, und in ein paar Jahren werde ich ein angesehener
Kaufmann sein. Niemand wird dann nach meinem Alter und dem meiner
Gattin fragen.«
»Aber ich frage danach«, sagte Helen sanft. »Ich
wünsche mir einen Mann in meinem Alter, der zu mir passt. Es tut
mir Leid, George ...«
»Und woher wissen Sie, dass dieser Briefschreiber Ihren
Vorstellungen entspricht?«, fragte der Junge gequält.
»Warum lieben Sie ihn? Sie haben doch gerade zum ersten Mal
einen Brief von ihm erhalten! Hat er sein Alter genannt? Wissen Sie,
ob er Sie angemessen ernähren und kleiden kann? Ob es etwas
gibt, worüber Sie miteinander reden können? Mit mir und
meinem Vater haben Sie sich immer gut unterhalten. Wenn Sie also auf
mich warten ... nur ein paar Jahre, Miss Davenport, bis ich mein
Studium beendet habe! Bitte, Miss Davenport! Bitte geben Sie mir eine
Chance!«
Der Junge griff unbeherrscht nach ihrer Hand.
Helen riss sich los.
»Es tut mir Leid, George. Es ist nicht so, als würde
ich dich nicht mögen, im Gegenteil.Aber ich bin deine Lehrerin,
und du bist mein Schüler. Daraus kann nicht mehr werden ...
zumal du in ein paar Jahren ganz anders darüber denken wirst.«
Helen stellte sich kurz die Frage, ob Richard Greenwood etwas von
der blinden Verliebtheit seines Sohnes geahnt hatte. Verdankte sie
ihm die großzügig gespendete Schiffspassage vielleicht
auch deshalb, weil er dem Jungen die Hoffnungslosigkeit seiner
Vernarrtheit vor Augen führen wollte?
»Ich werde nie anders darüber denken!«, sagte
George leidenschaftlich. »Sobald ich volljährig bin,
sobald ich eine Familie ernähren kann, werde ich für Sie da
sein! Wenn Sie nur warten, Miss Davenport!«
Helen schüttelte den Kopf. Sie musste dieses Gespräch
jetzt beenden. »George, selbst wenn ich dich lieben würde,
ich kann nicht warten. Wenn ich eine Familie haben will, muss ich die
Chance jetzt ergreifen. Howard ist diese Chance. Und ich werde ihm
eine gute und treue Gattin sein.«
George blickte sie verzweifelt an. Sein schmales Gesicht spiegelte
alle Qualen verschmähter Leidenschaft, und Helen meinte fast,
hinter den noch unfertigen Zügen des Jungen das Antlitz jenes
Mannes zu erkennen, zu dem George einmal werden würde. Ein
liebenswerter, weltkluger Mann, der sich nicht vorschnell
verpflichtete – und der seine Versprechen hielt. Helen hätte
den Jungen gern tröstend in die Arme genommen, aber das kam
natürlich nicht in Frage.
Sie wartete schweigend, bis George sich einen Ruck gab. Helen
rechnete damit, dass ihm kindliche Tränen in die Augen stiegen,
doch George erwiderte ihren Blick ruhig und fest.
»Ich werde Sie immer lieben!«, erklärte er.
»Immer. Egal, wo Sie sein werden und was Sie tun. Egal, wo ich
sein werde und was ich tue. Ich liebe Sie, nur Sie allein. Vergessen
Sie das nie, Miss Davenport.«
Â
5.
Die Dublin war ein imponierendes Schiff, selbst wenn sie noch
nicht unter vollen Segeln stand. Helen und den Waisenmädchen
erschien sie groß wie ein Haus, und tatsächlich sollte die
Dublin in den nächsten drei Monaten deutlich mehr Menschen
beherbergen als eine gewöhnliche Mietskaserne. Helen hoffte,
dass sie nicht auch ebenso brand- und einsturzgefährdet war,
aber zumindest auf Seetüchtigkeit wurden die Schiffe nach
Neuseeland vor der Abfahrt überprüft. Die Schiffseigner
mussten den Kontrolleuren der Krone nachweisen, dass eine
ausreichende Kabinenbelüftung gewährleistet war und dass
sie genügend Proviant an Bord hatten. Diese Verpflegung wurde
heute zum Teil noch geladen, und Helen ahnte bereits, was ihr blühte,
als sie die Fässer voll Pökelfleisch, die Säcke voll
Mehl und Kartoffeln und die Pakete voll Schiffszwieback am Anleger
stehen sah. Sie hatte schon gehört, dass die Kost an Bord alles
andere als abwechslungsreich sei – zumindest für die
Passagiere im Zwischendeck. Die Kabinengäste der ersten Klasse
wurden da ganz anders verpflegt. Für die, munkelte man, käme
sogar ein Koch an Bord.
Das Einsteigen des »gemeinen Volkes« überwachten
ein ruppiger Schiffsoffizier und der Bordarzt. Letzterer musterte
Helen und die Mädchen kurz, fühlte einmal über die
Stirn der Kinder, womit er vermutlich eine fiebrige Erkrankung
erkennen wollte, und ließ sich ihre Zungen zeigen.Als dies
alles keinen Befund ergab, nickte er dem
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