Im Land der weissen Rose
sichtlich nicht fesseln. Er schien Gwyn, Daphne und
Dorothy weitaus interessanter zu finden. Trotzdem genügte sein
flüchtiger Blick, um Helen ausgesprochen peinlich zu berühren.
Vielleicht lag es daran, dass er ihr nicht wie ein Gentleman ins
Gesicht sah, sondern eher ihre Figur einer Prüfung zu
unterziehen schien.Aber das konnte auch eine Täuschung sein oder
auf Einbildung beruhen ... Helen musterte den Mann misstrauisch,
konnte ihm sonst aber nichts vorwerfen. Er lächelte sogar
durchaus einnehmend, wenn auch etwas maskenhaft.
Helen war allerdings nicht die Einzige, die verstört auf ihn
reagierte.Aus dem Augenwinkel sah sie Gwyn instinktiv vor dem Mann
zurückweichen, und der lebhaften Mrs. Candler stand ihre
Abneigung deutlich im Gesicht geschrieben. Ihr Gatte legte leicht den
Arm um sie,als wollte er seine Besitzansprüche klarlegen. Der
Mann grinste anzüglich, als er der Geste gewahr wurde.
Als Helen sich zu den Mädchen umwandte, sah sie, dass Daphne
alarmiert wirkte. Dorothy blickte ängstlich. Nur Mrs. Baldwin
schien nichts von der seltsamen Ausstrahlung ihres Besuchers zu
spüren.
»So, und hier haben wir denn auch Mr. Morrison«,
stellte sie gelassen vor. »Den künftigen Dienstherrn von
Dorothy Carter. Sag guten Tag, Dorothy, Mr. Morrison will dich gleich
mitnehmen.«
Dorothy rührte sich nicht. Sie schien vor Schreck zu
erstarren. Ihr Gesicht wurde blass, ihre Pupillen weiteten sich.
»Ich ...« Das Mädchen setzte erstickt zum
Sprechen an, doch Mr. Morrison unterbrach sie mit dröhnendem
Lachen.
»Nicht so schnell, Mrs. Baldwin, erst will ich mir das
Kätzchen mal anschauen! Ich kann meiner Frau schließlich
kein x-beliebiges Mädel ins Haus holen. Du bist also Dorothy...«
Der Mann näherte sich dem Mädchen, das sich nach wie vor
nicht rührte – auch dann nicht, als er ihr eine
Haarsträhne aus dem Gesicht strich und dabei wie unabsichtlich
die zarte Haut ihres Halses streifte.
»Ein hübsches Ding. Meine Gattin wird entzückt
sein. Bist du denn auch geschickt mit den Händen, kleine
Dorothy?« Die Frage schien unverfänglich, aber selbst der
in geschlechtlichen Dingen völlig unerfahrenen Helen war klar,
dass hier mehr mitschwang als Interesse an Dorothys handwerklichem
Können. Gwyneira, die das Wort»Wollust« zumindest
schon einmal gelesen hatte, fiel der fast gierige Ausdruck in
Morrisons Augen auf.
»Zeig mir doch mal deine Hände, Dorothy ...«
Der Mann löste Dorothys ängstlich ineinander
verschränkte Finger und fuhr behutsam über ihre rechte
Hand. Es war mehr ein Streicheln als ein Prüfen ihrer Schwielen.
Er hielt die Hand deutlich zu lange fest, um auch nur halbwegs
innerhalb der schicklichen Grenzen zu bleiben. Irgendwann löste
das selbst Dorothys Starre.Abrupt zog sie die Hand weg und floh einen
Schritt rückwärts.
»Nein!«, sagte sie. »Nein, ich ... ich gehe
nicht mit Ihnen ... ich mag Sie nicht!« Erschrocken über
ihre eigene Courage senkte sie den Blick.
»Aber, aber, Dorothy! Du kennst mich doch gar nicht!«
Mr. Morrison näherte sich dem Mädchen, das sich unter
seinem fordernden Blick zusammen krümmte – erst recht
unter Mrs. Baldwins nachfolgendem Tadel:
»Was ist das für ein Benehmen, Dorothy! Du wirst dich
sofort entschuldigen!«
Dorothy schüttelte heftig den Kopf. Sie wollte lieber sterben
als mit diesem Mann zu gehen; sie konnte die Bilder nicht in Worte
fassen, die beim Anblick seiner gierigen Augen in ihrem Kopf
aufblitzten. Bilder Domarmenhaus, von ihrer Mutter in den Armen eines
Mannes, den sie »Onkel« nennen sollte. Sie erinnerte sich
verschwommen an seine sehnigen, harten Hände, die eines Tages
auch nach ihr griffen, sich unter ihr Kleid schoben ... Dorothy hatte
daraufhin geweint und sich wehren wollen.Aber der Mann hatte
weitergemacht, hatte sie gestreichelt und sich in Bereiche ihres
Körpers vorgetastet, die unaussprechlich waren und die man nicht
einmal beim Waschen ganz enthüllte. Dorothy meinte, vor Scham
vergehen zu müssen – aber dann war ihre Mutter doch noch
gekommen, kurz bevor der Schmerz und die Angst unerträglich
wurden. Sie hatte den Mann weggestoßen und ihre Tochter
geschützt. Später hielt sie Dorothy in den Armen, wiegte,
tröstete und warnte sie.
»Du darfst das niemals zulassen, Dottie! Lass dich nicht
anfassen, egal, was man dir dafür
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