Im Land der weissen Rose
verspricht! Lass nicht einmal
zu, dass sie dich so ansehen! Das eben war meine Schuld. Ich hätte
erkennen müssen, wie er dich anstarrt. Bleib niemals allein mit
den Männern hier, Dottie! Nie! Versprichst du’s mir?«
Dorothy hatte es versprochen und sich daran gehalten, bis ihre
Mutter kurz darauf gestorben war. Danach hatte man sie ins Waisenhaus
gebracht, wo sie sicher war.Aber jetzt starrte dieser Mann hier sie
an. Noch lüsterner als damals der Onkel. Und sie konnte nicht
Nein sagen. Sie durfte nicht, sie gehörte ihm, der Reverend
selbst würde sie züchtigen, wenn sie sich wehrte. Gleich
würde sie mit diesem Morrison mitgehen müssen. In seinen
Wagen, sein Haus ...
Dorothy schluchzte. »Nein! Nein, ich gehe nicht mit. Miss
Helen! Bitte, Miss Helen, Sie müssen mir helfen! Schicken Sie
mich nicht mit ihm. Mrs. Baldwin, bitte ... bitte!«
Das Mädchen lehnte sich schutzsuchend an Helen und floh
weiter zu Mrs. Baldwin, als Morrison sich ihr lachend näherte.
»Was hat sie denn nur?«, fragte er scheinbar
verwundert, als die Frau des Pastors Dorothy rüde abwehrte.
»Kann es sein, dass sie krank ist? Wir werden sie gleich zu
Bett bringen ...«
Dorothy schaute mit fast irrem Blick in die Runde.
»Er ist der Teufel! Sieht das denn keiner? Miss Gwyn, bitte,
Miss Gwyn! Nehmen Sie mich mit!Sie brauchen doch eine Zofe. Bitte,
ich will auch alles tun! Ich will kein Geld, ich...«
In ihrer Verzweiflung fiel das Mädchen vor Gwyneira auf die
Knie.
»Dorothy, beruhige dich!«, sagte Gwyn unsicher. »Ich
will Mr. Warden ja gern fragen ...«
Morrison schien verärgert. »Können wir das jetzt
abkürzen?«, fragte er schroff, wobei er Helen und Gwyneira
gänzlich ignorierte und sich nur an Mrs. Baldwin wandte. »Das
Mädchen ist ja völlig von Sinnen! Aber meine Frau braucht
eine Hilfe, also nehme ich sie trotzdem. Kommen Sie mir jetzt nicht
mit einer anderen! Ich bin extra aus den Plains hergeritten ...«
»Sie sind hergeritten?«, fragte Helen. »Wie
wollen Sie das Mädchen dann mitnehmen?«
»Hinter mir auf dem Pferd natürlich. Wird ihr Spaß
machen. Musst dich nur gut festhalten, Kleine ...«
»Ich ... ich mache das nicht«, stammelte Dorothy.
»Bitte, bitte, verlangen Sie das nicht von mir!« Sie lag
jetzt auch vor Mrs. Baldwin auf den Knien, während Helen und
Gwyn entsetzt zusahen und Mr. und Mrs. Candler geradezu abgestoßen
wirkten.
»Das ist ja furchtbar!«, sagte Mr. Candler
schließlich. »Nun sagen Sie doch etwas, Mrs. Baldwin!
Wenn das Mädchen partout nicht will, müssen Sie ihm eine
andere Stellung suchen. Es kann gern mit uns kommen. In Haldon
brauchen bestimmt zwei oder drei Familien eine Hilfe.«
Seine Frau nickte eifrig.
Mr. Morrison sog scharf die Luft ein. »Sie werden den Launen
der Kleinen doch nicht etwa nachgeben?«, fragte er Mrs. Baldwin
mit ungläubigem Gesichtsausdruck.
Dorothy wimmerte.
Daphne hatte die Szene bisher mit fast unbeteiligter Miene
verfolgt. Sie wusste genau, was Dorothy bevorstand, denn sie hatte
lange genug auf der Straße gelebt – und überlebt –,
um Morrisons Blick genauer deuten zu können als Helen und Gwyn.
Männer wie er konnten sich in London kein Dienstmädchen
leisten.Aber dafür fanden sich genug Kinder am Themseufer, die
für ein Stück Brot alles taten. So wie Daphne. Sie wusste
genau, wie man die Angst, den Schmerz und die Scham abschaltete, wie
man den Geist vom Körper trennte, wenn wieder mal so ein
Dreckskerl mit einem »spielen« wollte. Sie war stark.
Aber Dorothy würde daran zerbrechen.
Daphne blickte zu Miss Helen hinüber, die gerade lernte –
reichlich spät, wie Daphne fand –, dass man am Lauf der
Welt nichts ändern konnte, auch wenn man sich noch so sehr wie
eine Lady benahm. Dann schaute sie auf Miss Gwyn, die das ebenfalls
noch lernen musste.Aber Miss Gwyn war stark. Unter anderen Umständen,
beispielsweise als Frau eines mächtigen Schafbarons, hätte
sie jetzt etwas unternehmen können. Doch so weit war sie noch
nicht.
Und dann die Candlers. Reizende, liebenswerte Leute, die ihr, der
kleinen Daphne aus der Gosse, einmal im Leben eine Chance geben
würden. Wenn sie ihre Karten nur ein bisschen geschickt
ausspielte, würde sie einen ihrer Erben heiraten, ein geachtetes
Leben führen, Kinder haben, eine »Honoratiorin« des
Ortes
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