Im Land der weissen Rose
Howard.
Helen hatte die gestrige Nacht noch züchtig in ihrem Bett bei
den Baldwins verbracht. Ihren Mann mit ins Pfarrhaus zu nehmen stand
außer Frage, und eine Übernachtung im Hotel konnte oder
wollte Howard sich nicht leisten.
»Wir sind noch unser ganzes Leben zusammen«, hatte er
erklärt und Helen unbeholfen auf die Wange geküsst. »Da
soll es auf diese Nacht nicht ankommen.«
Helen war erleichtert gewesen, aber auch ein wenig enttäuscht.Auf
jeden Fall hätte sie die Annehmlichkeiten eines Hotelzimmers dem
Deckenlager auf dem Planwagen vorgezogen, das sie womöglich
während der Reise erwartete. Sie hatte ihr gutes Nachthemd ganz
nach oben in ihre Reisetasche gelegt, doch wo sie sich schicklich an-
und auskleiden sollte, war ihr schleierhaft. Ãœberdies nieselte
es anhaltend, und ihre Kleidung – und zweifellos auch die
Decken – waren kalt und klamm. Was immer sie auch in der Nacht
erwartete, diese Bedingungen würden dem Gelingen nicht
zuträglich sein!
Immerhin blieb Helen das improvisierte Lager auf dem Planwagen
erspart. Kurz vor dem Dunkelwerden, als sie schon völlig
erschöpft war und sich nur noch wünschte, das Rütteln
des Karrens würde endlich
aufhören, hielt Howard vor einem bescheidenen Farmhaus.
»Hier, bei den Leuten können wir unterkommen«,
sagte er zu Helen und half ihr ritterlich vom Bock. »Wilbur,
den Mann, kenn ich aus Port Cooper. Hat jetzt auch geheiratet und
sich sesshaft gemacht.«
Im Haus schlug ein Hund an, und Wilbur und seine Frau kamen
neugierig heraus, um die Besucher zu mustern.
Als der kleine drahtige Mann Howard erkannte, brüllte er los
und umarmte ihn stürmisch. Die beiden klopften sich auf die
Schultern, erinnerten einander an frühere, gemeinsame
Heldentaten und hätten am liebsten schon im Regen die erste
Flasche entkorkt.
Helen sah sich Hilfe suchend nach der Frau um. Zu ihrer Beruhigung
lächelte sie offen und einladend.
»Sie müssen die neue Mrs. O’Keefe sein! Wir
konnten es kaum glauben, als wir hörten, dass Howard heiraten
will!Aber kommen Sie doch erst mal herein, Sie sind bestimmt
durchgefroren. Und das Gerüttel auf diesen Karren – Sie
kommen aus London, nicht wahr? Sicher sind Sie vornehme Droschken
gewöhnt!« Die Frau lachte, als hätte sie ihre letzte
Bemerkung nicht ernst gemeint. »Ich bin Margaret.«
»Helen«, stellte Helen sich vor.Anscheinend hielt man
hier nicht auf Förmlichkeiten. Margaret war etwas größer
als ihr Mann, dünn und wirkte leicht verhärmt. Sie trug ein
viele Male geflicktes, schlichtes graues Kleid. Die Einrichtung des
Farmhauses, in das sie Helen jetzt führte, war ziemlich
primitiv: Tische und Stühle aus grobem Holz und ein offener
Kamin, auf dem auch gekocht wurde. Doch das Essen, das bereits in
einem großen Kessel brodelte, roch würzig.
»Ihr habt Glück, ich hab vorhin ein Huhn geschlachtet«,
verriet Margaret. »Nicht mehr das jüngste, aber eine
ordentliche Suppe gibt’s schon noch her. Setzen Sie sich ans
Feuer, Helen, und trocknen Sie sich ab. Hier ist Kaffee, und einen
Schluck Whiskey soll ich wohl auch noch finden.«
Helen blickte verwirrt. Sie hatte noch nie im Leben Whiskey
getrunken, doch Margaret schien nichts dabei zu finden. Sie schenkte
Helen jetzt einen Emaillebecher voll gallebitteren Kaffees ein, der
wohl schon endlos lange nah am Feuer warm gehalten wurde. Helen wagte
nicht, nach Zucker oder gar Milch zu fragen, aber Margaret stellte
beides bereitwillig vor sie auf den Tisch. »Nehmen Sie viel
Zucker, das weckt die Lebensgeister. Und einen Schuss Whiskey!«
Tatsächlich tat der Schnaps dem Geschmack des Kaffees gut.
Mit Zucker und Milch war die Mischung durchaus trinkbar. Zumal
Alkohol ja auch Sorgen vertreiben und angespannte Muskeln lockern
sollte. So gesehen konnte Helen ihn als Medizin betrachten. Sie sagte
nicht Nein, als Margaret zum zweiten Mal nachfüllte.
Als die Hühnersuppe fertig war, sah Helen alles wie durch
einen leichten Nebel. Ihr war endlich wieder warm, und die vom Feuer
erhellte Stube wirkte einladend. Wenn sie das »Unaussprechliche«
hier zum ersten Mal erleben sollte – warum nicht?
Die Suppe trug ebenfalls dazu bei, ihre Stimmung zu heben. Sie war
ausgezeichnet, machte allerdings müde. Helen wäre am
liebsten gleich zu Bett gegangen, obwohl Margaretes offensichtlich
genoss, mit ihr zu
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