Im Land der weissen Rose
auf Lucas’ eigenen, recht gelungenen
Zeichnungen oder in seinen Lehrbüchern bewundern. Doch als sie
einem Exemplar einer der heimischen Insektenarten erstmals leibhaftig
begegnete, wäre selbst der hartgesottenen Gwyneira beinahe ein
Schrei entfahren. Lucas, ganz aufmerksamer Gentleman, eilte sofort
besorgt an ihre Seite. Der Anblick schien ihn allerdings eher zu
freuen als mit Ekel zu erfüllen.
»Es ist ein Weta!«, begeisterte er sich und stieß
das sechsbeinige Tier, das Hoturapa eben im Garten ausgegraben hatte,
mit einem Stöckchen an. »Sie sind die vielleicht größten
Insekten der Welt.Acht Zentimeter Länge und mehr sind nicht
ungewöhnlich.«
Gwyneira konnte den Jubel ihres Verlobten nicht teilen. Wenn das
Tier wenigstens noch wie ein Schmetterling oder wie eine Biene oder
Hornisse ausgesehen hätte... Aber das Weta ähnelte am
ehesten einer fetten, feucht glänzenden Heuschrecke.
»Sie gehören zu den Schreckenarten!«, dozierte
Lucas. »Genauer gesagt, zur Familie der Langfühlerschrecken.
Außer den Höhlen-Weta, die werden den Rhaphidophoridae
zugeordnet ...«
Lucas kannte die lateinischen Bezeichnungen für sämtliche
Weta-Untergruppen. Gwyneira fand den Maori-Namen für die Tiere
allerdings erheblich treffender. Kiri und ihre Leute nannten sie
wetapunga, »Gott der hässlichen Dinge«.
»Stechen sie?«, fragte Gwyneira. Das Tier schien nicht
sonderlich lebendig zu sein, sondern bewegte sich nur träge
vorwärts, als Lucas es anstieß. Doch es verfügte über
einen imponierenden Stachel am Unterleib. Gwyneira hielt gebührend
Abstand.
»Nein, nein, üblicherweise sind sie harmlos. Sie beißen
höchstens mal. Das ist dann ungefähr so wie ein
Wespenstich«, erklärte Lucas. »Der Stachel ist ...
soll ... nun, er bedeutet, dass dies hier ein Weibchen ist, und ...«
Lucas wand sich, wie immer, wenn es um etwas »Geschlechtliches«
ging.
»Ist zum Eierlegen, Miss Gwyn«, klärte Hoturapa
sie beiläufig auf. »Die hier dick und fett, bald legen
Eier. Viel Eier, hundert, zweihundert ... Besser nicht mitnehmen in
Haus, Mr. Lucas. Nicht, dass legen Eier in Haus ...«
»Um Himmels willen!« Allein der Gedanke, das Wohnhaus
demnächst mit zweihundert Nachkommen dieses wenig sympathischen
Tieres zu teilen, jagte Gwyn Schauer über den Rücken. »Lass
sie bloß hier. Wenn sie wegläuft ...«
»Nicht schnell laufen, Miss Gwyn. Springen. Wupps, und Sie
haben wetapunga auf Schoß!«, erklärte Hoturapa.
Gwyneira ging vorsichtshalber noch einen Schritt zurück.
»Dann zeichne ich sie eben hier, an Ort und Stelle«,
gab Lucas mit leichtem Bedauern nach. »Ich hätte sie gern
mit in mein Arbeitszimmer genommen und direkt mit den Abbildungen im
Bestimmungsbuch verglichen.Aber so muss eben meine Zeichnung reichen.
Sie möchten doch sicher auch gern wissen, Gwyneira, ob es sich
um eine Boden-Weta oder eine Baum-Weta handelt...«
Gwyneira war selten etwas so egal gewesen.
»Warum interessiert er sich nicht für Schafe, wie sein
Vater?«, fragte sie gleich darauf ihr geduldiges Publikum,
bestehend aus Cleo und Igraine. Gwyneira hatte sich in den Stall
verzogen, während Lucas die Weta zeichnete, und striegelte eben
ihre Stute.Am Morgen hatte das Pferd beim Reiten geschwitzt, und das
Mädchen ließ es sich nicht nehmen, ihr das inzwischen
getrocknete Fell selbst zu glätten. »Oder für Vögel!
Aber die halten wahrscheinlich nicht lange genug still, um sich
zeichnen zu lassen.«
Die einheimische Vogelwelt fand Gwyneira deutlich interessanter
als Lucas’ krabbelnde Lieblinge. Die Farmarbeiter hatten ihr
inzwischen einige Arten gezeigt und erklärt. Die meisten dieser
Leute kannten sich in ihrer neuen Heimat recht gut aus; die häufigen
Ãœbernachtungen unter freiem Himmel beim Schaftrieb hatten sie
auch mit den oft nachtaktiven Laufvögeln vertraut gemacht. James
McKenzie zum Beispiel konnte Gwyneira den Namensvetter der
europäischen Einwanderer auf Neuseeland vorstellen: Der
Kiwi-Vogel war klein und gedrungen, und Gwyn fand ihn sehr exotisch
mit seinem braunen Gefieder, das fast wie eine Behaarung wirkte, und
dem für seinen Körperbau viel zu langen Schnabel, den er
oft als »fünftes Bein«, benutzte.
»Er hat übrigens etwas mit Ihrem Hund gemeinsam«,
erklärte McKenzie launig. »Er kann
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