Im Land Der Weissen Wolke
Doch sobald er sich ihr näherte, schrie Ruben laut und anhaltend. Helen zerriss es beinahe das Herz, doch sie war gehorsam genug, trotzdem still zu liegen und zu warten, bis Howard fertig war. Erst dann kümmerte sie sich um das Baby. Doch Howard gefielen weder die Tonuntermalung noch Helens offensichtliche Anspannung und Ungeduld. Meist zog er sich zurück, wenn Ruben losweinte, und wenn er spät abends nach Hause kam und das Baby in Helens Armen sah, schlief er gleich im Stall. Helen hatte deshalb ein schlechtes Gewissen, war Ruben aber dennoch dankbar.
Tagsüber schrie das Kind fast nie, sondern lag meist brav in seinem Körbchen, während Helen die Maori-Kinder unterrichtete. Wenn es nicht gerade schlief, schaute es so ernst und aufmerksam auf die Lehrerin, als verstehe es bereits, um was es ging.
»Er wird mal Professor«, sagte Gwyneira lachend. »Der kommt ganz auf dich, Helen!«
Zumindest äußerlich lag sie da nicht ganz falsch. Rubens anfänglich blaue Augen wurden mit der Zeit grau wie Helens, und sein Haar schien dunkel zu werden wie Howards, jedoch glatt und nicht lockig.
»Er kommt nach meinem Vater!«, bestimmte Helen. »Nach dem ist er ja auch benannt. Aber Howard ist fest entschlossen, dass er Farmer wird, auf gar keinen Fall Reverend.«
Gwyneira kicherte. »Da haben sich schon andere geirrt. Denk nur an Mr. Gerald und meinen Lucas.«
Gwyn fiel diese Unterhaltung wieder ein, während sie in Haldon Einladungen verteilte. Genau genommen war das Neujahrsfest nicht Geralds Idee gewesen, sondern Lucas’ – allerdings geboren aus der Absicht, Gerald zu beschäftigen und zufrieden zu stellen. Der Haussegen hing nämlich spürbar schief auf Kiward Station, und mit jedem Monat, in dem Gwyn nicht schwanger wurde, schien es schlimmer zu werden. Gerald reagierte nun offen aggressiv auf den Mangel an Nachwuchs, auch wenn er natürlich nicht wusste, wen der beiden Eheleute er dafür verantwortlich machen sollte. Nun verhielt Gwyneira sich meist zurückhaltend, hatte ihre Pflichten im Haus inzwischen halbwegs im Griff und bot Gerald insofern nicht viel Angriffsfläche. Dazu hatte sie ein feines Gefühl für seine Stimmungen. Wenn er schon morgens die frisch gebackenen Muffins bekrittelte – und sie mit einem Whiskey statt mit Tee hinunterspülte, was immer häufiger geschah –, verschwand sie gleich in den Ställen und verbrachte den Tag lieber mit den Hunden und Schafen, statt Blitzableiter für Geralds schlechte Laune zu spielen. Lucas dagegen traf der Zorn seines Vaters voll und fast immer unerwartet. Nach wie vor lebte der junge Mann in seiner eigenen Welt, doch Gerald riss ihn immer rücksichtsloser aus dieser Welt heraus und trieb ihn an, sich auf der Farm nützlich zu machen. Das ging so weit, dass er einmal ein Buch zerriss, mit dem er Lucas in seinem Zimmer vorfand, obwohl er die Schafschur hätte beaufsichtigen sollen.
»Du brauchst doch bloß zu zählen, verdammt noch mal!«, tobte Gerald. »Die Scherer rechnen sonst falsch ab! In Schuppen drei haben sich eben zwei von den Kerlen geprügelt, weil beide Anspruch auf den Lohn für die Schur von hundert Schafen anmelden, und keiner kann schlichten, weil niemand die Zahlen verglichen hat! Für Schuppen drei warst du eingeteilt, Lucas! Jetzt sieh zu, wie du das geregelt bekommst!«
Gwyneira hätte Schuppen drei gern übernommen, doch ihr als Hausfrau oblag die Verpflegung, nicht die Aufsicht über die Wanderarbeiter, die zur Schafschur angeheuert wurden. Deshalb war die Versorgung der Männer ausgezeichnet: Gwyneira erschien immer wieder mit Erfrischungen, weil sie sich an der Arbeit der Scherer nicht satt sehen konnte. Zu Hause auf Silkham war Schafschur eine ziemlich gemächliche Angelegenheit gewesen; die paar hundert Schafe wurden von den Schäfern selbst in wenigen Tagen geschoren. Hier allerdings galt es, Tausende von Schafen zu scheren, die von weitläufigen Weiden geholt und zusammengepfercht werden mussten. Die Schur selbst wurde dadurch zur Akkordarbeit für Spezialisten. Die besten Arbeitstrupps schafften 800 Tiere pro Tag. Auf großen Betrieben wie Kiward Station gab es auch immer einen Wettbewerb – und James McKenzie war in diesem Jahr auf dem besten Weg, ihn zu gewinnen! Er lag dichtauf mit einem Spitzenscherer aus Schuppen eins, und das, obwohl er nicht nur selbst mitarbeitete, sondern auch noch die anderen Scherer in Schuppen zwei beaufsichtigte. Wenn Gwyneira vorbeikam, nahm sie es ihm ab und hielt ihm den Rücken frei. Ihre
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