Im Land Der Weissen Wolke
fragen, hatte sie gute Gründe für die Flucht und für die Tat. Ich weiß nur nicht, was sie jetzt noch für eine Zukunft hat ...«
George zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich die gleiche Zukunft, die sie in London erwartet hätte. Armes Kind. Aber das Waisenhauskomitee hat sein Fett wegbekommen, dafür hat Reverend Thorne gesorgt. Und dieser Baldwin ...«
Helen lächelte beinahe triumphierend. »Dem hat man Harper vor die Nase gesetzt. Aus der Traum vom Bischof von Canterbury. Ich empfinde dabei eine ganz unchristliche Schadenfreude! Aber erzählen Sie weiter! Ihr Vater ...«
»... waltet nach wie vor seines Amtes bei Greenwood Enterprises. Die Firma wächst und gedeiht. Die Königin unterstützt den Außenhandel, und in den Kolonien werden riesige Vermögen gemacht, oft auf Kosten der Eingeborenen. Ich habe da Dinge gesehen ... Eure Maoris sollten sich glücklich schätzen, dass sowohl die weißen Einwanderer als auch sie selbst eher friedlich veranlagt sind. Aber mein Vater und ich können es nicht ändern – auch wir profitieren von der Ausbeutung dieser Länder. Und in England selbst blüht die Industrialisierung, wenngleich mit Auswüchsen, die mir genauso wenig gefallen wie die Schinderei in Übersee. Die Zustände in manchen Fabriken sind erschreckend. Wenn ich es recht bedenke, hat es mir nirgends so gut gefallen wie hier in Neuseeland. Aber ich schweife ab ...«
Während George zurück zum Thema fand, wurde ihm klar, dass er die Bemerkung eben nicht nur gemacht hatte, um Helen zu schmeicheln. Dieses Land gefiel ihm wirklich. Die geraden, gelassenen Menschen, die weite Landschaft mit den majestätischen Bergen, die weitläufigen Farmen mit den wohlgenährten Schafen und Rindern auf den üppigen Weiden – und Christchurch, das sich anschickte, eine typisch englische Bischofs-und Universitätsstadt am anderen Ende der Welt zu werden.
»Was macht William?«, erkundigte sich Helen.
George seufzte mit vielsagendem Augenaufschlag. »William war nicht auf dem College, aber damit hatten Sie wohl auch nicht ernsthaft gerechnet?«
Helen schüttelte den Kopf.
»Er hatte eine Reihe von Hauslehrern, die zuerst regelmäßig von meiner Mutter entlassen wurden, weil sie angeblich zu streng mit William waren, dann von meinem Vater, weil sie ihm nichts beibrachten. Seit einem Jahr arbeitet er nun mit in der Firma, soweit man von Arbeiten sprechen kann. Im Grunde schlägt er nur die Zeit tot, wobei es ihm an Gefährten nicht mangelt, weder an männlichen noch an weiblichen. Nach den Pubs hat er jetzt die Mädchen entdeckt. Leider vorwiegend die aus der Gosse. Er unterscheidet das ja nicht, im Gegenteil. Die Ladys machen ihm Angst, aber die leichten Mädchen bewundern ihn. Meinen Vater macht das krank, und meine Mutter realisiert es noch gar nicht. Aber wie es eines Tages wird, wenn ...«
Er sprach nicht weiter, doch Helen wusste genau, was er dachte: Wenn sein Vater eines Tages starb, würden beide Brüder die Firma erben. George musste William dann entweder auszahlen – was ein Unternehmen wie Greenwood zerstören würde – oder weiter im Geschäft dulden. Helen hielt es für unwahrscheinlich, dass er Letzteres lange durchhielt.
Als beide schwiegen und gedankenverloren ihren Tee tranken, flog die Außentür auf, und die Kinder Fleur und Ruben stürmten herein.
»Wir haben gewonnen!« Fleurette strahlte und schwenkte einen improvisierten Krocketschläger. »Ruben und ich sind Sieger!«
»Ihr habt geschummelt«, tadelte Gwyneira, die hinter den Kindern erschien. Auch sie wirkte erhitzt und ein bisschen schmutzig, schien sich aber prächtig amüsiert zu haben. »Ich habe genau gesehen, wie du Rubens Ball heimlich durch das letzte Tor geschoben hast!«
Helen runzelte die Stirn. »Stimmt das, Ruben? Und du hast nichts gesagt?«
»Mit den komischen Schlägern geht es eben nicht prä ... prä ... Wie hieß das noch mal, Ruben?«, verteidigte Fleur ihren Freund.
»Präzise«, ergänzte Ruben. »Aber die Richtung stimmte!«
George lächelte. »Wenn ich wieder in England bin, schicke ich euch richtige Schläger«, versprach er. »Aber dann wird nicht getrickst!«
»Bestimmt?«, fragte Fleur.
Ruben dagegen gingen andere Dinge durch den Kopf. Er musterte Helen und ihren ihr offensichtlich vertrauten Besucher mit klugen braunen Augen. Schließlich wandte er sich an George.
»Du bist aus England. Bist du mein richtiger Vater?«
Gwyn schnappte nach Luft, während Helen rot anlief.
»Ruben! Rede doch nicht so einen
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