Im Land Der Weissen Wolke
behelligen. Sie werden ja doch nicht mit mir davonlaufen, nicht wahr?« Das alte, freche Grinsen.
Helen schüttelte den Kopf und hielt Nepumuk eine Möhre hin. »Ich könnte das Maultier niemals verlassen«, scherzte sie mit Tränen in den Augen. George war so süß und immer noch so unschuldig. Wie glücklich würde er das Mädchen machen, das seine Versprechen einmal ernst nehmen durfte!
»Aber nun kommen Sie herein, und erzählen Sie von Ihrer Familie.«
Der Innenraum der Hütte entsprach Georges Erwartungen: schlichtes Mobiliar, aber wohnlich gemacht durch die Hand einer unermüdlichen, reinlichen und geschäftigen Hausfrau. Den Tisch zierten eine bunte Decke und ein Krug voller Blumen; die Stühle wurden durch selbst genähte Kissen bequemer. Vor dem Kamin standen ein Spinnrad und Helens alter Schaukelstuhl – und auf einem Regal waren säuberlich ihre Bücher aufgereiht. Es gab sogar ein paar neue. Geschenke von Howard, oder doch eher »Leihgaben« von Gwyneira? Kiward Station hatte eine umfangreiche Bibliothek, obwohl George sich kaum vorstellen konnte, dass Gerald viel las.
George berichtete von London, während Helen Tee zubereitete. Sie arbeitete dabei mit dem Rücken zu ihm; sicher wollte sie nicht, dass er ihre Hände sah. Raue, verarbeitete Hände; nicht mehr die zarten, gepflegten Finger seiner alten Gouvernante.
»Mutter betreut nach wie vor ihre Wohltätigkeitsorganisationen – nur das Waisenhauskomitee hat sie verlassen nach dem Skandal damals. Das nimmt sie Ihnen übrigens bis heute übel, Helen. Die Damen sind der festen Überzeugung, Sie hätten die Mädchen auf der Überfahrt verdorben.«
»Ich hätte was?«, fragte Helen verdutzt.
»Auf jeden Fall hätte Ihre, ich zitiere, ›emanzipierte Art‹ die Mädchen Demut und Hingabe gegenüber ihren Arbeitgebern vergessen lassen. Nur deshalb konnte es zu diesem Eklat kommen. Mal ganz abgesehen davon, dass Sie die Sache an Pastor Thorne verraten haben. Mrs. Baldwin hat nichts davon verlauten lassen.«
»George, das waren kleine, verstörte Mädchen! Eins hat man einem Sittenstrolch ausgeliefert, das andere als Arbeitssklavin verkauft. Eine Familie mit acht Kindern, George, bei denen eine höchstens Zehnjährige den Haushalt versorgen sollte! Hebammendienste inklusive. Kein Wunder, dass das Kind weggelaufen ist! Und die so genannten Herrschaften von Laurie waren nicht viel besser. Ich höre noch diese unmögliche Mrs. Lavender: ›Nein, wenn wir zwei nehmen, reden sie nur den lieben langen Tag, statt zu arbeiten.‹ Und dabei hat die Kleine sich die Augen ausgeweint ...«
»Hat man denn überhaupt noch mal von den Mädchen gehört?«, erkundigte sich George. »Sie hatten nichts mehr geschrieben.«
Es klang, als habe der junge Mann jeden von Helens Briefen auswendig gelernt.
Helen schüttelte den Kopf. »Man weiß nur, dass Mary und Laurie am selben Tag verschwanden. Genau eine Woche, nachdem man sie getrennt hatte. Man nimmt an, es sei abgesprochen gewesen. Ich glaube das allerdings nicht. Mary und Laurie brauchten niemals Absprachen. Die eine wusste immer, was die andere dachte – es war fast unheimlich. Danach hat man nichts mehr von ihnen gehört. Ich befürchte, sie sind ums Leben gekommen. Zwei kleine Mädchen allein in der Wildnis ... es ist ja nicht so, als hätten sie zwei Meilen voneinander entfernt gewohnt und sich leicht treffen können. Diese ... diese Christen .« Sie spie das Wort aus. »Sie haben Mary auf eine Farm hinter Haldon geschickt, und Laurie blieb in Christchurch. Dazwischen liegen fast fünfzig Meilen Busch. Ich darf gar nicht daran denken, was die Kinder durchgemacht haben.«
Helen schenkte Tee ein und setzte sich zu George an den Tisch.
»Und die dritte?«, fragte er. »Was war mit der?«
»Daphne? Oh, das war ein Skandal, davon haben wir erst Wochen später erfahren. Sie ist weggelaufen. Aber vorher hat sie ihren Dienstherrn, diesen Morrison, mit kochendem Wasser überschüttet – voll ins Gesicht. Zuerst hieß es, er würde es wohl nicht überleben. Dann hat er es doch geschafft, aber er ist erblindet, und sein Gesicht ist von Narben entstellt. Dorothy sagt, Morrison sähe jetzt aus wie das Ungeheuer, das er immer war. Sie hat ihn mal gesehen, denn die Morrisons kommen nach Haldon einkaufen. Die Frau ist aufgeblüht, nachdem der Mann den ... Unfall hatte. Nach Daphne wird gefahndet, aber wenn sie nicht gerade in Christchurch in die Gendarmerie hineinspaziert, wird man sie wohl nicht finden. Wenn Sie mich
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