Im Land Der Weissen Wolke
leise.
Gwyneira sah sie an, als wäre sie irre. »Lucas? Wieso Lucas ... Ach, es ist viel schlimmer, Helen, ich bin schwanger! Und ich will das Kind nicht haben!«
»Du bist ganz durcheinander«, murmelte Helen und führte ihre Freundin ins Haus. »Komm, ich mach dir einen Tee, und dann reden wir darüber. Warum freust du dich nicht auf das Kind, um Himmels willen? Du hast doch jahrelang versucht, eines zu bekommen, und nun ... Oder hast du Angst, das Kind könnte zu spät kommen? Ist es nicht von Lucas?« Helen sah Gwyneira forschend an. Sie hatte manchmal vermutet, dass es Geheimnisse um Fleurs Geburt gab – das Aufleuchten in Gwyns Augen beim Anblick von James McKenzie konnte keiner Frau entgehen. Doch in letzter Zeit hatte sie die beiden kaum zusammen gesehen. Und Gwyn würde doch nicht so dumm sein, sich gleich nach dem Weggang ihres Mannes einen Liebhaber zu nehmen! Oder war Lucas fortgegangen, weil es schon einen Liebhaber gab? Helen konnte sich das nicht vorstellen. Gwyn war eine Lady. Sicher nicht unfehlbar, aber unfehlbar diskret!
»Das Kind ist ein Warden«, antwortete Gwyneira fest. »Daran besteht kein Zweifel. Aber ich will es trotzdem nicht!«
»Das hast du aber nicht zu bestimmen«, meinte Helen hilflos. Sie konnte Gwyns Gedanken nicht nachvollziehen. »Wenn man schwanger ist, ist man schwanger ...«
»Ach was! Es muss eine Möglichkeit geben, das Kind loszuwerden. Fehlgeburten kommen immer wieder vor.«
»Aber doch nicht bei gesunden jungen Frauen wie dir!« Helen schüttelte den Kopf. »Warum gehst du nicht zu Matahorua? Sie kann dir sicher sagen, ob das Kind gesund ist.«
»Vielleicht kann sie mir helfen ...«, meinte Gwyn hoffnungsvoll. »Vielleicht kennt sie einen Trank oder so etwas. Damals auf dem Schiff hat Daphne mal irgendetwas zu Dorothy gesagt, über ›Engelmacher‹ ...«
»Gwyn, so was darfst du nicht einmal denken!« Helen hatte in Liverpool von »Engelmachern« munkeln gehört; ihr Vater hatte einige der Opfer begraben. »Das ist gottlos! Und gefährlich! Du kannst dabei sterben. Und warum, um Himmels willen ...«
»Ich gehe zu Matahorua!«, erklärte Gwyn. »Versuch nicht, mich davon abzubringen. Ich will dieses Kind nicht!«
Matahorua bat Gwyneira zu einer Steinreihe hinter den Gemeinschaftshäusern, wo die beiden allein waren. Auch sie musste ihr am Gesicht angesehen haben, dass etwas Ernstes passiert war. Aber diesmal würden sie ohne Dolmetscher auskommen müssen – Gwyn hatte Rongo Rongo zu Hause gelassen. Eine Mitwisserin war das Letzte, das sie brauchte.
Matahorua verzog auf unbestimmte Weise das Gesicht, als sie Gwyn einen Sitz auf den Steinen anbot. Ihr Ausdruck sollte sicher freundlich sein, vielleicht sogar ein Lächeln, doch auf Gwyneira wirkte er bedrohlich. Die Tätowierungen im Gesicht der alten Zauberin schienen jede Mimik zu verändern, und ihre Gestalt warf seltsame Schatten im Sonnenlicht. »Baby. Ich schon weiß von Rongo Rongo. Starkes Baby ... viel Kraft. Aber auch viel Wut ...«
»Ich will das Baby nicht!«, stieß Gwyneira hervor, ohne die Zauberin anzusehen. »Kannst du etwas tun?«
Matahorua suchte den Blick der jungen Frau. »Was ich soll tun? Baby totmachen?«
Gwyneira verkrampfte sich. So brutal hatte sie es bis jetzt noch nicht zu formulieren gewagt. Aber genau darauf lief es hinaus. Schuldgefühle stiegen in ihr auf.
Matahorua musterte sie aufmerksam, ihr Gesicht und ihren Körper, und wie immer schien sie dabei durch den Menschen hindurch in irgendeine, nur ihr allein bekannte Ferne zu blicken.
»Dir wichtig, Baby sterben?«, fragte sie leise.
Gwyneira spürte plötzlich Wut in sich aufsteigen. »Wäre ich sonst hier?«, brach es aus ihr heraus.
Matahorua zuckte die Schultern. »Starkes Baby. Wenn Baby sterben, du auch sterben. So wichtig?«
Gwyneira schauderte. Was machte Matahorua so sicher? Und warum zweifelte man nie an ihren Worten, egal wie widersinnig sie sein mochten? Konnte sie wirklich in die Zukunft sehen? Gwyneira dachte nach. Sie empfand nichts für das Kind in ihrem Leib, allenfalls Ablehnung und Hass, genau wie für seinen Vater. Aber so glühend war der Hass nicht, dass es sich lohnte, deswegen zu sterben! Gwyneira war jung und lebte gern. Außerdem wurde sie gebraucht. Was sollte aus Fleurette werden, wenn sie auch noch den zweiten Elternteil verlor? Gwyn beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Vielleicht könnte sie dieses Unglückskind ja einfach zur Welt bringen und dann vergessen? Sollte Gerald sich
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