Im Land Der Weissen Wolke
Zaumzeug fehlten.
»Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?«, fragte er leise, blickte in Gwyneiras blasses Gesicht und bemerkte ihren schwerfälligen Gang.
Gwyn schüttelte den Kopf und nahm in Kauf, dass sie nach Lucas nun auch James verletzte: »Nichts, das dich etwas anginge!«
James, das wusste sie, hätte Gerald getötet.
6
Lucas blieb auch in den nächsten Wochen verschwunden. Ein Umstand, der erstaunlicherweise dazu beitrug, Gwyneiras und Geralds Verhältnis ein wenig zu normalisieren – schließlich mussten sie sich allein schon wegen Fleur irgendwie arrangieren. In den ersten Tagen nach Lucas’ Weggang vereinte die beiden die Sorge, ihm könnte etwas geschehen sein oder er könnte sich sogar etwas angetan haben. Eine Suchaktion in der Nähe der Farm blieb jedoch vergeblich, und nach reiflicher Überlegung glaubte Gwyneira auch nicht an einen Selbstmord. Sie hatte inzwischen Lucas’ Sachen durchgesehen und festgestellt, dass ein paar schlichte Kleidungsstücke fehlten – zu ihrer Verwunderung gerade solche, wie ihr Mann sie am wenigsten gemocht hatte. Lucas hatte Arbeitskleidung eingepackt, Regenzeug, Unterwäsche und sehr wenig Geld. Das passte zu dem alten Pferd und dem alten Sattel: Er wollte eindeutig nichts von Gerald annehmen; die Trennung sollte sauber vollzogen werden. Es schmerzte Gwyneira, dass er sie ohne ein Wort verlassen hatte. Soweit sie sehen konnte, hatte er kein Erinnerungsstück an sie oder ihre Tochter mitgenommen, lediglich ein Taschenmesser, das sie ihm einmal geschenkt hatte. Wie es aussah, hatte sie ihm nie etwas bedeutet; die flüchtige Freundschaft, die das Ehepaar verbunden hatte, war ihm keinen Abschiedsbrief wert gewesen.
Gerald erkundigte sich in Haldon nach seinem Sohn – was dem Klatsch natürlich Nahrung gab – sowie in Christchurch, diskreter, mit Hilfe von George Greenwood. Beides ergab kein Ergebnis, Lucas Warden war weder in dem einen noch in dem anderen Ort gesehen worden.
»Er kann weiß Gott wo sein«, klagte Gwyneira Helen ihr Leid. »In Otago, in den Goldgräberlagern, oder an der Westcoast, vielleicht sogar auf der Nordinsel. Gerald will Nachforschungen anstellen lassen, aber das ist hoffnungslos. Wenn er nicht gefunden werden will, dann wird er auch nicht gefunden.«
Helen zuckte die Achseln und setzte den unvermeidlichen Teekessel auf. »Vielleicht ist es besser so. Es war sicher nicht gut für ihn, so endlos in Abhängigkeit von Gerald zu leben. Jetzt kann er sich beweisen – und Gerald wird dich nicht mehr wegen der Kinderlosigkeit triezen. Aber warum ist er so plötzlich verschwunden? Gab es wirklich keinen Anlass? Keinen Streit?«
Gwyneira verneinte errötend. Sie hatte niemandem, nicht einmal ihrer besten Freundin, von der Vergewaltigung erzählt. Wenn sie es für sich behielt, so hoffte sie, würde die Erinnerung irgendwann verblassen. Dann wäre es so, als hätte der Abend nicht stattgefunden, als wäre es nur ein hässlicher Albtraum gewesen. Gerald schien die Sache ähnlich zu sehen. Er war ausnehmend höflich zu Gwyneira, schaute sie selten an und achtete peinlich darauf, sie ja nicht zu berühren. Die beiden sahen sich bei den Mahlzeiten, um den Dienstboten keinen Grund zum Klatsch zu geben, und schafften es zugleich, unverbindlich miteinander zu plaudern. Gerald trank nach wie vor, aber jetzt meist erst nach dem Essen, wenn Gwyneira sich bereits zurückgezogen hatte. Gwyneira nahm Helens Lieblingsschülerin, die jetzt fünfzehnjährige Rongo Rongo, als persönliche Zofe in Dienst und bestand darauf, dass das Mädchen in ihren Räumen schlief, um stets verfügbar zu sein. Sie hoffte, Gerald dadurch von Übergriffen abzuhalten, doch ihre Sorge war unbegründet. Geralds Verhalten blieb untadelig. Insofern hätte Gwyneira die verhängnisvolle Sommernacht irgendwann vergessen können. Tatsächlich aber hatte sie Folgen. Als ihre Periode zum zweiten Mal ausblieb und Rongo Rongo beim Ankleiden vielsagend lächelte und über ihren Bauch strich, musste Gwyn sich eingestehen, dass sie schwanger war.
»Ich will es nicht haben!«, sagte sie schluchzend, nachdem sie einen Parforceritt zu Helen hinter sich hatte. Sie hätte die Schulstunden nicht abwarten können, bevor sie mit ihrer Freundin sprach. Doch Helen erkannte schon an ihrer entsetzten Miene, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Sie gab den Kindern frei, schickte Fleur und Ruben zum Spielen in den Busch und nahm Gwyneira in die Arme.
»Hat man Lucas gefunden?«, fragte sie
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