Im Land Der Weissen Wolke
dafür zu sterben. Dann ließ er los.
Die Welt war ein Meer aus Schmerzen, die wie Messerstiche durch Lucas’ Rücken rasten. Er war nicht tot, aber er wünschte es sich in jeder dieser grauenhaften Sekunden. Sehr lange konnte es nicht mehr dauern, bis der Tod ihn ereilte. Nach einem Sturz von vielleicht zwanzig Yard war Lucas auf Davids »Goldstrand« aufgeschlagen. Er konnte die Beine nicht bewegen, und sein linker Arm war gelähmt: Ein offener Bruch; der zersplitterte Knochen hatte das Fleisch durchstoßen. Wenn es nur schnell endete ...
Lucas biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien, und hörte Davids Stimme von oben.
»Luke! Halt durch, ich komme!«
Und tatsächlich, der Junge hatte das Seil gehalten und nun geschickt irgendwo auf der Felsnase befestigt. Lucas betete, dass David nicht ebenfalls abrutschte, doch tief im Herzen wusste er, dass Davids Knoten hielten ...
Zitternd vor Angst und Schmerz verfolgte er, wie der Junge sich abseilte. Trotz des gebrochenen Beins und seiner gewiss zerschundenen Finger hangelte er sich gekonnt am Felsen entlang und erreichte schließlich den Strand. Vorsichtig lastete er sein Gewicht auf das gesunde Bein, musste dann aber kriechen, um zu Lucas zu gelangen.
»Ich brauch ’ne Krücke«, sagte er gespielt munter. »Und dann versuchen wir, am Fluss entlang nach Hause zu kommen ... oder im Fluss, wenn’s sein muss. Was ist mit dir, Luke? Ich bin glücklich, dass du lebst! Der Arm heilt schon wieder, und ...«
Der Junge kauerte sich neben Lucas und untersuchte seinen Arm.
»Ich ... ich sterbe, Davey«, flüsterte Lucas. »Es ist nicht nur der Arm. Aber du ... du kommst zurück, Dave. Versprich mir, dass du nicht aufgibst ...«
»Ich gebe nie auf!«, sagte David, doch es gelang ihm nicht, dabei zu lachen. »Und du ...«
»Ich ... hör zu, Dave, würdest du ... könntest du ... mich in den Arm nehmen?« Der Wunsch brach aus Lucas heraus; er konnte sich nicht bezähmen. »Ich ... möchte ...«
»Du möchtest auf den Fluss schauen?«, fragte David freundlich. »Er ist wunderschön und glänzt wie Gold. Aber ... vielleicht ist es besser, wenn du still liegen bleibst ...«
»Ich sterbe, Dave«, wiederholte Lucas. »Eine Sekunde früher oder später ... bitte ...«
Der Schmerz war rasend, als David ihn aufrichtete, schien dann aber plötzlich zu verschwinden. Lucas spürte nichts mehr außer dem Arm des Knaben um seinen Körper, seinen Atem, die Schulter, an die er sich lehnte. Er roch seinen Schweiß, der ihm süßer erschien als der Rosengarten in Kiward Station, und er hörte das Schluchzen, das David jetzt nicht mehr unterdrücken konnte. Lucas ließ den Kopf zur Seite sinken und hauchte einen verstohlenen Kuss auf Davids Brust. Der Junge spürte ihn nicht, zog den Sterbenden aber noch fester an sich.
»Alles wird gut!«, flüsterte er. »Alles wird gut. Du schläfst jetzt ein bisschen, und dann ...«
Steinbjörn Sigleifson wiegte den Sterbenden in den Armen, wie seine Mutter es mit ihm gemacht hatte, als er noch klein gewesen war. Auch er fand Trost in dieser Umarmung; sie hielt die Angst von ihm fern, gleich ganz allein, verletzt und ohne Decken und Proviant auf diesem Strandstück verlassen zu werden. Schließlich presste er sein Gesicht in Lucas’ Haar und schmiegte sich schutzsuchend an ihn.
Lucas schloss die Augen und überließ sich ganz diesem überwältigenden Glücksgefühl. Alles war gut. Er hatte, was er sich gewünscht hatte. Er war da, wo er hingehörte.
11
George Greenwood führte sein Pferd in den Mietstall von Westport und wies den Besitzer an, es gut zu füttern. Man schien dem Mann trauen zu können; die Anlage machte einen relativ gepflegten Eindruck. Überhaupt gefiel ihm diese kleine Stadt an der Mündung des Buller River. Bislang war sie winzig, gerade mal zweihundert Einwohner, aber schon jetzt stießen immer mehr Goldsucher dazu – und auf die Dauer würde auch Kohle gefördert werden. Was George anging, interessierte dieser Rohstoff ihn weitaus mehr als das Gold. Die Entdecker der Kohlevorkommen suchten nach Investoren, die auf lange Sicht für den Aufbau einer Mine sorgten, vorerst jedoch für eine Eisenbahnverbindung. Denn solange es keine Möglichkeit gab, die Kohle preiswert abzutransportieren, war eine Förderung unrentabel. George wollte seinen Aufenthalt an der Westküste nun unter anderem dazu nutzen, sich einen Eindruck von dem Land und den möglichen Verkehrsverbindungen zu machen. Es war immer gut für einen Kaufmann,
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