Im Land Der Weissen Wolke
hinunterzuschauen ...
Plötzlich hörte er eine schwache, erstickte Stimme.
»Luke ... hilf mir! Luke!«
Lucas rannte. Das konnte nicht wahr sein, er konnte nicht ...
Dann sah er den Jungen auf einer Felsnase, vielleicht zwanzig Meter unter ihm. Er blutete aus einer Wunde über dem Auge, und sein Bein schien seltsam verkrümmt, aber er lebte.
»Luke, ich glaube, ich hab mir das Bein gebrochen! Es tut so weh ...«
David wirkte verängstigt; er schien mit den Tränen zu kämpfen, aber er lebte! Und seine augenblickliche Position war auch nicht sehr gefährlich. Die Felsnase bot genügend Platz für einen, wenn auch nicht für zwei Menschen. Lucas würde sich abseilen, den Jungen zu sich ans Seil holen und ihm beim Aufstieg helfen müssen. Er überlegte, ob er das Pferd dabei einsetzen konnte, doch ohne Sattel, an dessen Horn man den Strick knoten konnte, war das nicht sehr erfolgversprechend. Zudem kannte er das Tier nicht. Wenn es durchging, während sie am Strick hingen, konnte es sie umbringen. Also einer der Felsen! Lucas schlang das Seil darum. Es war nicht lang genug, um einen Abstieg ganz bis ins Flusstal zu ermöglichen, doch bis zu Davids Platz reichte es mühelos.
»Ich komme, Davey! Ganz ruhig!« Lucas schob sich über die Felskante. Sein Herz klopfte heftig, und sein Hemd war jetzt schon nass von Schweiß. Lucas war nie geklettert – große Höhen machten ihm Angst. Doch das Abseilen war einfacher als gedacht. Der Fels war nicht glatt, und Lucas fand immer wieder Halt an Vorsprüngen, was ihm Mut für den späteren Wiederaufstieg machte. Er durfte nur nicht in den Abgrund blicken ...
David hatte sich nahe an den Rand der Felsnase geschleppt und erwartete Lucas mit ausgestreckten Armen. Doch Lucas hatte die Entfernung nicht optimal eingeschätzt. Wie sich jetzt herausstellte, geriet er etwas zu weit links von David auf Höhe der Felsnase. Er würde das Seil leicht in Schwingungen versetzen müssen, bis der Junge es ergreifen konnte. Lucas wurde übel, wenn er nur daran dachte. Bis jetzt hatte er immer noch ein bisschen Halt am Felsen, doch um zu schwingen, musste er jeden Kontakt mit dem Stein aufgeben.
Er atmete tief durch.
»Ich komme jetzt, David! Greif nach dem Seil, und zieh mich zu dir. Sobald ich mit einem Fuß Halt habe, schiebst du dich rüber, und ich nehm dich in Empfang. Ich halt dich, keine Angst!«
David nickte. Sein Gesicht war blass und tränenüberströmt. Doch er wirkte gefasst, und er war geschickt. Bestimmt würde es ihm gelingen, das Seil zu ergreifen.
Lucas löste sich vom Felsen. Er stieß sich schwungvoll ab, um möglichst ohne längeres Pendeln sofort bei Dave zu landen. Beim ersten Mal schwang er jedoch in die falsche Richtung und blieb zu weit von dem Jungen entfernt. Er hangelte nach dem Halt für seinen Fuß; dann versuchte er es ein weiteres Mal. Diesmal gelang es. David ergriff das Seil, während Lucas’ Fuß nach einer Stütze angelte.
Aber dann gab der Strick nach! Der Felsen oben auf der Klippe musste sich bewegt haben, oder Lucas’ ungeschickt geknüpfter Knoten hatte sich gelockert. Zuerst schien sein Körper nur ein Stück weit abzurutschen. Er schrie auf – und dann ging alles in Sekundenbruchteilen. Das Seil oberhalb der Klippe löste sich vollkommen. Lucas fiel, und David klammerte sich an den Strick. Der Junge versuchte verzweifelt, den Absturz des Freundes aufzuhalten, doch aus seiner liegenden Position heraus war es hoffnungslos. Das Seil rutschte durch seine Finger, immer schneller und schneller. Wenn es bis ans Ende durchschoss, würde nicht nur Lucas in die Tiefe fallen, auch Davids letzte Chance wäre dahin. Mit dem Strick konnte er sich vielleicht noch ins Flussbett abseilen. Ohne würde er auf der Felsnase verhungern und verdursten. Die Gedanken schossen Lucas durch den Kopf, während er immer tiefer abrutschte. Er musste eine Entscheidung treffen – Davey konnte ihn nicht halten, und wenn er überhaupt lebend unten ankam, würde er sich auf jeden Fall verletzen. Dann half das Seil keinem von ihnen. Lucas beschloss, einmal im Leben das Richtige zu tun.
»Halt das Seil!«, rief er zu David hinauf. »Halt unbedingt das Seil fest, egal was passiert!«
Gezogen von seinem Gewicht, schoss das Seil immer schneller durch Davids Finger. Sie mussten bereits verbrannt sein; womöglich würde er gleich schon aus Schmerz aufgeben.
Lucas sah zu ihm auf, sah das verzweifelte und doch so schöne Jungengesicht, das er so sehr liebte, dass er bereit war,
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