Im Land Der Weissen Wolke
Helen notdürftig vor dem Regen geschützt hatte und jetzt vollständig durchnässt war. Den ebenso nassen Mantel hatte sie immerhin im Vorzimmer abgeben können. Darunter trug sie einen blauen Tuchrock und eine sorgfältig gestärkte, helle Rüschenbluse. Helen wollte unbedingt einen guten, möglichst distinguierten Eindruck erwecken. Lady Brennan dürfte sie auf keinen Fall für eine leichtsinnige Glücksritterin halten.
»Sie wollen also auswandern?«, fragte die Lady geradeheraus. »Eine Pfarrerstochter, obendrein in guter Stellung, wie ich sehe. Was lockt Sie nach Übersee?«
Helen überlegte ihre Antwort sorgfältig. »Mich lockt nicht das Abenteuer, Mylady«, bemerkte sie. »Ich bin zufrieden in meiner Stellung, und meine Herrschaft behandelt mich gut. Aber ich sehe jeden Tag das Glück in ihrer Familie, und mein Herz brennt vor Sehnsucht, selbst einmal im Mittelpunkt einer solch liebenden Gemeinschaft zu stehen.«
Hoffentlich empfand die Dame das nicht als übertrieben. Helen selbst hatte fast lachen müssen, als sie sich diese Sätze zurechtgelegt hatte. Schließlich waren die Greenwoods nicht gerade ein Musterbeispiel für Harmonie – und das Allerletzte, was Helen sich wünschte, wäre ein Sprössling wie William.
Doch Mrs. Brennan wirkte recht angetan von Helens Antwort. »Und hier in der Heimat sehen Sie keine Möglichkeiten dafür?«, erkundigte sie sich. »Sie glauben, keinen Gatten finden zu können, der Ihren Ansprüchen genügt?«
»Ich weiß nicht, ob meine Ansprüche zu groß sind«, meinte Helen vorsichtig. Tatsächlich hatte sie vor, später noch einige Fragen zu den »wohl beleumundeten, gut situierten Mitgliedern« der Gemeinde Christchurch zu stellen. »Aber meine Mitgift ist sicher klein. Ich kann wenig sparen, Mylady. Bislang habe ich meine Brüder bei ihren Studien unterstützt, da blieb nichts übrig. Und ich bin siebenundzwanzig. Viel Zeit für die Suche nach einem Gatten bleibt mir da nicht mehr.«
»Und Ihre Brüder benötigen Ihre Unterstützung nun nicht mehr?«, wollte Lady Brennan wissen. Offensichtlich unterstellte sie Helen, sich durch die Auswanderung ihren familiären Pflichten entziehen zu wollen. Ganz Unrecht hatte sie damit nicht. Helen hatte es gründlich satt, ihre Brüder zu finanzieren.
»Meine Brüder stehen kurz vor dem Abschluss ihrer Studien«, behauptete sie. Das war nicht einmal gelogen: Wenn Simon noch einmal durchfiel, würde man ihn der Universität verweisen, und um John stand es nicht viel besser. »Aber ich sehe keine Chancen, dass sie danach ihrerseits für meine Mitgift aufkommen. Weder ein Rechtsreferendar noch ein Assistenzarzt verdienen viel Geld.«
Lady Brennan nickte. »Werden Sie Ihre Familie denn nicht vermissen?«, erkundigte sie sich dann griesgrämig.
»Meine Familie wird aus meinem Ehemann und – so Gott will – unseren Kindern bestehen«, erklärte Helen fest. »Ich will meinem Gatten beim Aufbau seines Heims in der Fremde zur Seite stehen. Da werde ich kaum Zeit haben, der alten Heimat nachzutrauern.«
»Sie scheinen fest entschlossen«, bemerkte die Lady.
»Ich hoffe, dass Gott mich leitet«, meinte Helen demütig und senkte den Kopf. Die Fragen zu den Männern würden warten müssen. Hauptsache, dieser Drache in schwarzer Spitze half ihr weiter! Und wenn die Herren in Christchurch ebenso auf Herz und Nieren geprüft wurden wie die Frauen hier, konnte eigentlich nichts schief gehen. Immerhin zeigte Lady Brennan sich jetzt aufgeschlossener. Sie verriet sogar ein wenig über die Gemeinde Christchurch: »Eine aufstrebende Siedlung, gegründet von ausgesuchten Siedlern, handverlesen durch die Church of England. In absehbarer Zeit wird die Stadt Bischofssitz. Der Bau einer Kathedrale ist geplant, desgleichen eine Universität. Sie werden nichts vermissen, Kindchen. Selbst die Straßen wurden nach englischen Bistümern benannt.«
»Und der Fluss, der durch die Stadt führt, heißt Avon, wie der in Shakespeares Heimatstadt«, fügte Helen hinzu. Sie hatte sich in den letzten Tagen intensiv mit jeder ihr zugänglichen Literatur über Neuseeland beschäftigt und sich dafür sogar den Zorn von Mrs. Greenwood zugezogen: William hatte sich in der London Library zu Tode gelangweilt, als Helen den Jungen erklärt hatte, wie man sich in dieser riesigen Bibliothek zurechtfand. George musste mitbekommen haben, dass der Grund für den Besuch der Bücherei nur vorgeschoben war, doch er hatte Helen nicht verraten und sich gestern sogar erboten, die
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