Im Land Der Weissen Wolke
von ihr ausgeliehenen Bücher in seiner Freizeit zurückzubringen.
»Ganz recht«, bestätigte Lady Brennan zufrieden. »Sie sollten den Avon einmal an Sommernachmittagen sehen, Kindchen, wenn die Menschen am Ufer stehen und den Ruderregatten zuschauen. Man fühlt sich dann wie im guten alten England ...«
Helen beruhigten diese Erzählungen. Zwar war sie fest entschlossen, das Abenteuer zu wagen, was aber nicht hieß, dass sich echter Pioniergeist in ihr regte. Sie hoffte auf einen freundlichen, städtischen Haushalt, einen gepflegten Freundeskreis – alles vielleicht etwas kleiner und weniger prächtig als bei den Greenwoods, aber doch vertraut. Vielleicht war der »wohl beleumundete Mann« ja ein Beamter der Krone oder ein kleiner Kaufmann. Helen war bereit, jedem eine Chance zu geben.
Doch als sie das Büro dann mit dem Brief und der Adresse eines gewissen Howard O’Keefe verließ, Farmer in Haldon, Canterbury, Christchurch, war sie doch ein wenig verunsichert. Sie hatte nie auf dem Lande gelebt; ihre Erfahrungen beschränkten sich auf einen Ferienaufenthalt mit den Greenwoods in Cornwall. Man hatte dort eine befreundete Familie besucht, und dabei war es höchst zivilisiert zugegangen. Allerdings hatte bei Mr. Mortimers Landhaus auch niemand von »Bauernhof« gesprochen, und Mr. Mortimer hatte sich auch nicht einfach »Landwirt« genannt, sondern ...
»Gentlemanfarmer«, fiel es Helen endlich ein, woraufhin sie sich gleich besser fühlte. Ja, so hatte der Bekannte der Greenwoods von sich gesprochen. Und das passte sicher auch auf Howard O’Keefe. Helen konnte sich einen schlichten Bauern kaum als gut situiertes Mitglied der besseren Gesellschaft in Christchurch vorstellen.
Helen hätte O’Keefes Brief am liebsten auf der Stelle gelesen, zwang sich aber zur Geduld. Auf keinen Fall konnte sie das Schreiben gleich im Vorzimmer des Reverends aufreißen, und auf der Straße wäre es nass geworden. Also trug sie ihren Schatz ungeöffnet nach Hause und freute sich nur über die gestochen klare Schrift auf dem Umschlag. Nein, so schrieb sicher kein ungebildeter Bauer! Helen überlegte kurz, ob sie sich für den Heimweg zu den Greenwoods eine Droschke leisten sollte, fand dann aber keine und sagte sich schließlich, dass es nun auch nicht mehr lohne. So wurde es spät, und sie hatte gerade noch Zeit, Hut und Mantel abzulegen, bevor das Abendessen serviert wurde. Den wertvollen Brief in der Tasche eilte Helen zu Tisch – und versuchte, Georges neugierige Blicke zu übersehen. Der Junge konnte eins und eins zusammenzählen! Bestimmt ahnte er, wo Helen den Nachmittag verbracht hatte.
Mrs. Greenwood hingegen hegte sicher keinen Verdacht und fragte nicht nach, als Helen von ihrem Besuch beim Pfarrer berichtete.
»Ach ja, ich muss den Reverend auch in der nächsten Woche aufsuchen«, sagte Mrs. Greenwood zerstreut. »Wegen der Waisenkinder für Christchurch. Unser Komitee hat sechs Mädchen ausgewählt, aber der Reverend hält die Hälfte für zu jung, um sie allein auf Reisen zu schicken. Nichts gegen den Reverend, aber er ist manchmal ein bisschen weltfremd! Rechnet sich einfach nicht aus, was die Kinder hier kosten, während sie drüben ihr Glück machen könnten ...«
Helen ließ Mrs. Greenwoods Gerede unkommentiert, und auch Mr. Greenwood schien heute nicht zum Streiten aufgelegt. Wahrscheinlich genoss er die friedliche Stimmung am Tisch, die sicher vor allem darauf zurückzuführen war, dass William rechtschaffen müde wirkte. Da die Schulstunden ausfielen und die Nanny sich auf andere Aufgaben herausredete, hatte man das jüngste Dienstmädchen damit betraut, im Garten mit ihm zu spielen. Das bewegliche kleine Ding hatte ihn beim Ballspiel ordentlich ins Schwitzen gebracht, zum Schluss aber wohlweislich gewinnen lassen. Jetzt war er folglich ruhig und zufrieden.
Auch Helen redete sich auf Müdigkeit heraus, um sich um weiteres Geplauder nach dem Essen herumzudrücken. Meist verbrachte sie aus Höflichkeitsgründen noch eine halbe Stunde mit den Greenwoods vor dem Kamin und arbeitete an irgendeiner Stickerei, während Mrs. Greenwood von ihren endlosen Komitee-Sitzungen berichtete. Heute zog sie sich jedoch gleich zurück und nestelte schon auf dem Weg in ihre Unterkunft den Brief aus der Tasche. Schließlich nahm sie feierlich in ihrem Schaukelstuhl Platz, dem einzigen Möbel, das sie aus ihrem Vaterhaus mit nach London gebracht hatte, und entfaltete das Schreiben.
Schon als Helen die ersten Worte las,
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