Im Land Der Weissen Wolke
Lesen Ihres Briefes schienen mir die Meilen, die uns trennen, allerdings immer schneller zusammenzuschmelzen. Kann es sein, dass wir uns in unseren Träumen schon unendlich oft begegnet sind? Oder sind es nur gemeinsame Erfahrungen und Sehnsüchte, die uns einander nahe scheinen lassen? Auch ich bin kein kleines Mädchen mehr, wurde ich durch den Tod meiner Mutter doch früh gezwungen, Verantwortung zu übernehmen. So bin ich mit der Führung eines großen Haushalts durchaus vertraut. Ich habe meine Geschwister aufgezogen und bin heute in einem Londoner Herrenhaus als Erzieherin in Stellung. Das alles beschäftigt mich viele Stunden am Tag, aber des Nachts spüre ich doch die Leere in meinem Herzen. Ich lebe in einem geschäftigen Haushalt, einer lauten und bevölkerten Stadt, fühlte mich trotz allem aber zur Einsamkeit verdammt, bis mich Ihr Ruf nach Übersee ereilte. Noch bin ich mir unsicher, ob ich es wagen soll, ihm zu folgen. Noch möchte ich mehr wissen über das Land und Ihre Farm, vor allem aber über Sie, Howard O’Keefe! Ich wäre glücklich, wenn wir unsere Korrespondenz fortführen könnten. Wenn auch Sie das Gefühl hätten, in mir eine verwandte Seele erkannt zu haben. Wenn auch Sie beim Lesen meiner Zeilen einen Anflug jener Wärme und Geborgenheit spürten, die ich spenden möchte – einem liebenden Gatten und, so Gott will, einer Schar prächtiger Kinder in Ihrem jungen neuen Land!
Vorerst verbleibe ich voller Zuversicht Ihre Helen Davenport
Helen hatte ihren Brief gleich am nächsten Morgen zur Post gegeben, und wider allen besseren Wissens klopfte ihr Herz schon Tage danach schneller, wann immer sie den Postboten vor dem Haus sah. Sie konnte es dann kaum erwarten, den morgendlichen Unterricht zu beenden und in den Salon zu eilen, wo die Hausdame jeden Morgen die Post für die Familie und auch für Helen auslegte.
»Sie brauchen sich nicht so abzuhetzen, er kann noch nicht geschrieben haben«, bemerkte George eines Morgens, drei Wochen später, als Helen wieder einmal mit rotem Gesicht und fahrigen Bewegungen die Bücher zuschlug, kaum dass sie den Briefträger durch das Fenster des Studierzimmers erspähte. »Ein Schiff nach Neuseeland ist bis zu drei Monaten unterwegs. Das bedeutet für den Postverkehr: drei Monate hin, drei Monate zurück. Falls der Empfänger sofort antwortet und das Schiff direkt zurücksegelt. Sie sehen, es kann ein halbes Jahr dauern, bis Sie von ihm hören.«
Sechs Monate? Helen hätte es selbst ausrechnen können; jetzt aber war sie doch erschrocken. Wie lange würde es angesichts dieser Zeitspannen dauern, bis sie mit Mr. O’Keefe zu irgendeiner Einigung gelangte? Und woher wusste George...?
»Wie kommst du auf Neuseeland, George? Und wer ist ›er‹?«, erkundigte sie sich streng. »Manchmal bist du impertinent! Ich werde dir eine Strafarbeit geben, die dich ausreichend beschäftigt.«
George lachte spitzbübisch. »Vielleicht lese ich ja Ihre Gedanken!«, meinte er frech. »Zumindest bemühe ich mich darum. Aber manches bleibt mir doch verborgen. Oh, ich wüsste zu gern, wer ›er‹ ist! Ein Offizier Ihrer Majestät in der Division von Wellington? Oder ein Schaf-Baron auf der Südinsel? Am besten wäre ein Kaufmann in Christchurch oder Dunedin. Dann könnte mein Vater Sie im Auge behalten, und ich würde immer wissen, wie es Ihnen geht. Aber ich sollte natürlich nicht neugierig sein, schon gar nicht bei so romantischen Dingen. Also geben Sie mir schon die Strafarbeit. Ich werde sie in Demut angehen und obendrein die Peitsche schwingen, damit auch William weiterschreibt. Dann haben Sie Zeit, hinauszugehen und nach der Post zu schauen.«
Helen war knallrot geworden. Aber sie musste ruhig bleiben.
»Deine Fantasie ist überreizt«, bemerkte sie. »Ich erwarte bloß einen Brief aus Liverpool. Eine Tante ist erkrankt ...«
George grinste. »Übermitteln Sie ihr meine besten Genesungswünsche«, sagte er steif.
Tatsächlich ließ O’Keefes Antwort auch fast drei Monate nach dem Treffen mit Lady Brennan auf sich warten, und Helen war schon nahe daran, die Hoffnung aufzugeben. Stattdessen erreichte sie eine Nachricht von Reverend Thorne. Er bat Helen an ihrem nächsten freien Nachmittag zum Tee. Er habe, so ließ er ihr übermitteln, wichtige Dinge mit ihr zu besprechen.
Helen ahnte nichts Gutes. Wahrscheinlich ging es um John oder Simon. Wer wusste, was die wieder angestellt hatten! Womöglich war die Geduld ihres Dekans nun wirklich am Ende. Helen fragte
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