Im Land Der Weissen Wolke
groß. Paul respektierte Helen; vielleicht war sie der einzige Mensch, dem er überhaupt gehorchte, und manchmal glaubte sie, dass seinen ständigen Attacken gegen Ruben, Fleurette und Tonga auch Eifersucht zugrunde lag. Der aufgeweckte Häuptlingssohn gehörte zu ihren Lieblingsschülern, und Ruben und Fleurette nahmen ohnehin eine Sonderstellung ein. Paul dagegen war zwar nicht dumm, machte aber kaum durch besondere schulische Leistungen auf sich aufmerksam. Er spielte lieber den Klassenclown – und machte damit sowohl sich selbst als auch Helen das Leben schwer.
Heute bestand allerdings kaum die Chance, dass Paul die Schule noch irgendwann während des Unterrichts erreichte. Dafür war der Junge schon zu weit weg; er hatte sich, gleich als Ruben sich verschwörerisch an seine Schwester Fleur wandte, an die Fersen der beiden Älteren geheftet. Geheimnisse, das wusste er schon, rankten sich fast immer um irgendetwas Verbotenes, und für Paul gab es nichts Schöneres, als Fleur bei irgendeinem kleinen Vergehen zu ertappen. Er hatte dann keinerlei Hemmungen, es auszuplaudern, auch wenn die Ergebnisse dabei selten zufrieden stellend waren. Besonders Kiri bestrafte die Kinder eigentlich nie, und auch Pauls Mutter war ziemlich langmütig, wenn sie Fleurette beim Flunkern erwischte oder wenn bei ihren wilden Spielen mal eine Vase oder ein Glas zu Bruch gingen. Paul selbst passierten solche Missgeschicke selten. Er war von Natur aus geschickt; außerdem war er praktisch bei den Maoris aufgewachsen. Der geschmeidige Gang des Jägers, die Fähigkeit, sich nahezu lautlos an die Beute anzuschleichen – all das hatte er ebenso gelernt wie sein Rivale Tonga. Die Maori-Männer machten keinen Unterschied zwischen dem kleinen pakeha und ihrem eigenen Nachwuchs. Wenn Kinder da waren, kümmerte man sich um sie, und es gehörte zu den Aufgaben der Jäger, die Jungen in ihre Künste einzuweisen, ebenso wie die Frauen die Mädchen unterrichteten. Paul hatte immer zu ihren begabtesten Schülern gehört, und nun halfen ihm diese Fertigkeiten, unbemerkt hinter Fleurette und Ruben herzuschleichen. Schade nur, dass es hier höchstwahrscheinlich um ein Geheimnis des jungen O’Keefe ging, statt um einen Fehler seiner Schwester. Bestimmt würde Miss Helens Strafe nicht so hart ausfallen, dass es sich lohnte, dafür ihre Strafpredigt fürs Petzen auf sich zu nehmen. Eine bessere Wirkung hätte es erzielt, den Jungen bei seinem Vater zu verpfeifen, doch an Howard O’Keefe traute Paul sich nicht heran. Er wusste, dass Helens Mann und sein Großvater einander nicht mochten, und Geralds Feinden würde Paul nicht zuarbeiten, das war Ehrensache! Paul hoffte nur, dass sein Großvater das auch zu schätzen wusste. Er versuchte ständig, Gerald zu imponieren, aber meist sah der alte Warden einfach über ihn hinweg. Paul nahm ihm das nicht übel. Sein Großvater hatte Wichtigeres zu tun, als mit kleinen Jungen zu spielen – auf Kiward Station war Gerald Warden schließlich fast so etwas wie der liebe Gott. Aber irgendwann würde Paul einen ganz großen Wurf landen, und dann würde Gerald ihn bemerken müssen! Der Junge wünschte sich nichts mehr, als von ihm gelobt zu werden.
Nun aber Ruben und Fleurette – was mochten die zu verschleiern haben? Paul war schon misstrauisch geworden, als Ruben nicht sein eigenes Pferd genommen hatte, sondern vor Fleurette auf Minette geklettert war. Überhaupt – eine seltsame Art zu reiten! Minette trug keinen Sattel, sodass beide Reiter Platz auf ihrem Rücken hatten. Ruben saß vorn und führte die Zügel; Fleurette hatte sich hinter ihm platziert und schmiegte den Oberkörper an ihn, sogar die Wange hielt sie an seinen Rücken gepresst und die Augen geschlossen. Ihr lockiges, rotgoldenes Haar fiel offen über ihre Schultern – Paul erinnerte sich, dass einer der Viehtreiber gesagt hatte, die Kleine sähe zum Anbeißen aus. Das musste bedeuten, dass der Kerl es gern mit ihr getrieben hätte. Wobei Paul bislang nur unbestimmte Vorstellungen darüber hatte, wie das ging. Doch eins stand fest: Fleurette wäre wohl die Letzte, die ihm dazu einfiele. Das Wort Schönheit im Zusammenhang mit seiner Schwester war für Paul undenkbar. Warum kuschelte sie sich wohl so an Ruben? Ob sie Angst hatte, herunterzufallen? Eigentlich unwahrscheinlich, Fleurette war eine äußerst sichere Reiterin.
Es half nichts, Paul musste näher heran und mithören, was die beiden tuschelten. Wie dumm, dass sein Pony Minty so schnelle und
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