Im Land Der Weissen Wolke
warf. Um die Galerien in London zu beschicken, hatte sie Lucas’ Arbeitszimmer inzwischen gründlich durchforstet und war längst nicht mehr so unschuldig wie noch vor ein paar Monaten. Lucas hatte schon vorher Akte gemalt – zuerst Jungen, deren Posen denen des »David« glichen, aber auch Männer in eindeutigeren Stellungen. Einige der Bilder zeigten Spuren häufigen Gebrauchs. Lucas hatte sie wohl immer wieder herausgenommen, angesehen und ...
Gwyneira fiel auf, dass auch die Aktbilder der Zwillinge, und vor allem eine Studie der jungen Daphne, Fingerabdrücke zeigten. Lucas? Wohl kaum!
»Daphne gefällt Ihnen wohl?«, fragte sie ihren jungen Besucher vorsichtig.
Steinbjörn errötete noch tiefer. »Oh ja, sehr! Ich wollte sie heiraten. Aber sie will mich nicht.« Aus der Stimme des Jungen klang aller Schmerz des verschmähten Liebhabers. Niemals war dieser junge Mann Lucas’ »Lustknabe« gewesen!
»Sie werden ein anderes Mädchen heiraten«, sagte Gwyneira tröstend. »Sie ... Sie mögen doch Mädchen?«
Steinbjörn blickte sie mit einem Gesichtsausdruck an, als wäre das die dümmste Frage, die ein Mensch stellen konnte. Dann gab er bereitwillig weitere Auskünfte zu seinen Zukunftsplänen. Er würde George Greenwood aufsuchen und in dessen Firma eintreten.
»Eigentlich wollte ich ja lieber Häuser bauen«, meinte er betrübt. »Ich wollte Architekt werden. Luke sagte, ich sei begabt. Aber dazu müsste ich nach England, Schulen besuchen, und das kann ich mir nicht leisten. Aber hier, noch etwas ...« Steinbjörn verschloss Lucas’ Skizzenmappe und schob sie Gwyneira hinüber. »Ich hab Ihnen Lukes Bilder mitgebracht. All die Zeichnungen ... Mr. Greenwood meint, die wären vielleicht wertvoll. Ich will mich nicht daran bereichern. Wenn ich nur vielleicht eine behalten könnte. Die von Daphne ...«
Gwyneira lächelte. »Sie können selbstverständlich alle behalten. Lucas hätte das sicher gewollt ...« Sie überlegte kurz und schien dann einen Entschluss zu fassen. »Ziehen Sie Ihre Jacke an, David, wir reiten nach Haldon. Es gibt da noch etwas, das Lucas gewollt hätte.«
Der Direktor der Bank von Haldon schien Gwyneira für verwirrt zu halten. Er fand tausend Gründe, sich ihrem Wunsch zu widersetzen, beugte sich schließlich aber ihrer entschlossenen Forderung. Widerwillig schrieb er das Konto, auf das Lucas’ Einkünfte aus den Bilderverkäufen eingingen, auf Steinbjörn Sigleifsons Namen um.
»Sie werden das noch bereuen, Mrs. Warden! Da häuft sich ein Vermögen an. Ihre Kinder ...«
»Meine Kinder haben bereits ein Vermögen. Sie sind die Erben von Kiward Station, und zumindest meine Tochter macht sich nicht das Geringste aus Kunst. Wir brauchen das Geld nicht, aber dieser Junge hier war Lucas’ Schüler. Ein ... Seelenverwandter sozusagen. Er braucht das Geld, er weiß es zu schätzen, und er soll es haben! Hier, David, müssen Sie unterschreiben. Mit vollem Namen, das ist wichtig.«
Steinbjörn stockte der Atem, als er die Summe auf dem Konto sah. Doch Gwyneira nickte ihm nur freundlich zu. »Nun machen Sie schon, ich muss zurück in meinen Scherschuppen, das Vermögen meiner Kinder mehren! Und Sie kümmern sich in London am besten selbst um diese Galerie. Damit sie Sie nicht übervorteilen, wenn Sie die restlichen Bilder verkaufen. Sie sind jetzt sozusagen Verwalter von Lucas’ künstlerischem Erbe. Also machen Sie was draus!«
Steinbjörn Sigleifson zögerte nicht länger, sondern setzte seinen Namen unter das Dokument.
Lucas’ »David« hatte seine Goldmine gefunden.
ANKUNFT
Canterbury Plains – Otago
1870–1877
1
»Paul, Paul, wo steckst du denn schon wieder?«
Helen rief nach dem aufmüpfigsten unter ihren Schülern, obwohl sie genau wusste, dass der Junge sie kaum hören würde. Paul Warden spielte bestimmt nicht friedlich mit den Maori-Kindern in unmittelbarer Nähe ihres improvisierten Schulhauses. Wenn er verschwand, bedeutete das in aller Regel Schwierigkeiten. Entweder prügelte er sich irgendwo mit seinem Erzfeind Tonga – dem Häuptlingssohn des auf Kiward Station siedelnden Maori-Stammes –, oder er lauerte Ruben und Fleurette auf, um ihnen irgendwelche Streiche zu spielen. Dabei waren seine Einfälle nicht immer komisch. Ruben war ziemlich verzweifelt gewesen, als Paul neulich ein Tintenfass über sein neuestes Buch ausgeschüttet hatte. Das war nicht nur deshalb ärgerlich, weil der Junge sich diese Gesetzessammlung lange gewünscht und erst jetzt durch
Weitere Kostenlose Bücher