Im Land Der Weissen Wolke
George Greenwood aus England bekommen hatte, sondern auch, weil das Buch äußerst wertvoll war. Gwyneira hatte ihnen das Geld natürlich ersetzt, war aber ebenso erschrocken über die Tat ihres Sohnes wie Helen.
»Er ist doch gar nicht mehr so klein!«, erregte sie sich, während der elfjährige Paul ungerührt daneben stand. »Paul, du wusstest, was das Buch gekostet hat! Und das war kein Versehen! Meinst du, auf Kiward Station wächst das Geld an den Bäumen?«
»Nö, aber an den Schafen!«, entgegnete Paul nicht ganz unrichtig. »Und wir können uns jede Woche so ’n blöden Schinken leisten, wenn wir bloß Lust darauf haben!« Dabei funkelte er Ruben boshaft an. Der Junge wusste genau, wie es um die wirtschaftliche Lage in den Canterbury Plains stand. Howard O’Keefe verdiente zwar erheblich besser, seit Greenwood Enterprises ihn protegierte, doch von Geralds Ehrentitel Schaf-Baron war er weit entfernt. Die Herden und der Wohlstand auf Kiward Station waren auch in den letzten zehn Jahren stetig gewachsen, und für Paul Warden gab es tatsächlich fast keinen Wunsch, der unerfüllt blieb. Dabei stand ihm der Sinn weniger nach Büchern. Paul wollte lieber das schnellste Pony, freute sich an Spielzeuggewehren und Pistolen – und hätte wohl auch schon ein eigenes Luftgewehr besessen, hätte George Greenwood es bei seinen Bestellungen in England nicht immer wieder »vergessen«. Helen betrachtete Pauls Entwicklung mit Sorge. Ihrer Ansicht nach wurden dem Jungen zu wenig Grenzen gesetzt. Sowohl Gwyneira als auch Gerald machten ihm zwar teure Geschenke, kümmerten sich sonst aber kaum um ihn. Auch dem Einfluss seiner Pflegemutter Kiri war Paul bereits weitgehend entwachsen. Er hatte sich längst die Ansicht seines vergötterten Großvaters zu Eigen gemacht, die weiße Rasse sei den Maoris überlegen. Das war letztlich auch immer wieder Anlass für die endlosen Streitereien mit Tonga. Der Häuptlingssohn war genauso selbstsicher wie der Erbe des Schaf-Barons, und die Jungen stritten erbittert darum, wem das Land gehörte, auf dem sowohl Tongas Leute als auch die Wardens lebten. Helen beunruhigte auch das. Tonga würde höchstwahrscheinlich einmal die Nachfolge seines Vaters antreten, so wie Paul Gerald beerbte. Wenn dann immer noch Feindschaft zwischen den Männern bestand, konnte es schwierig werden. Und jede blutige Nase, mit der einer der Jungen nach Hause kam, vertiefte die Kluft zwischen ihnen.
Wenigstens gab es Marama. Das beruhigte Helen ein wenig, denn Kiris Tochter, Pauls »Ziehschwester«, hatte eine Art sechsten Sinn für die Zusammenstöße der Jungs und pflegte auf jedem Kampfplatz aufzutauchen, um zu schlichten. Wenn sie hier gerade harmlos Hüpfspiele mit ein paar Freundinnen machte, hatten Paul und Tonga sich zurzeit wohl nicht in der Wolle. Marama lächelte Helen denn auch verschwörerisch zu. Sie war ein entzückendes Kind, zumindest nach Helens Maßstäben. Ihr Gesicht war schmaler als das der meisten Maori-Mädchen, und ihr samtiger Teint war schokoladenfarben. Tätowierungen trug sie noch nicht, sie würde wahrscheinlich auch nie nach traditioneller Sitte geschmückt werden. Die Maoris gingen immer mehr von diesem Brauch ab und trugen auch kaum noch traditionelle Kleidung. Sie waren sichtlich bemüht, sich den pakeha anzupassen – was Helen einerseits erfreulich fand, was sie manchmal aber auch mit einem unbestimmten Bedauern erfüllte.
»Wo ist Paul, Marama?«, wandte Helen sich nun direkt an das Mädchen. Paul und Marama kamen gewöhnlich zusammen zum Unterricht aus Kiward Station. Wenn Paul sich über irgendetwas geärgert hätte und vorzeitig heimgeritten wäre, wüsste sie das.
»Weggeritten, Miss Helen. Er ist einem Geheimnis auf der Spur«, verriet Marama mit heller Stimme. Die Kleine war eine gute Sängerin, ein Talent, das bei ihrem Volk geschätzt war.
Helen seufzte. Sie hatten gerade ein paar Bücher gelesen, in denen sich es um Piraten und Schatzsuche, geheimnisvolle Länder und Gärten drehte, und nun suchten alle Mädchen nach verzauberten Rosengärten, während die Jungen begeistert Schatzkarten zeichneten. Ruben und Fleur hatten das in diesem Alter auch getan, doch bei Paul musste man immer die Befürchtung hegen, dass seine Geheimnisse nicht gar so harmlos waren. Vor kurzem zum Beispiel hatte er Fleurette in helle Aufregung versetzt, indem er ihr geliebtes Pferd Minette, eine Tochter der Ponystute Minty mit dem Zuchthengst Madoc, entführt und im Rosengarten von Kiward
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