Im Land Der Weissen Wolke
erinnern. Sie wusste nur noch, dass ihre Mutter irgendwann krank geworden und schließlich gestorben war. Seitdem lebte sie im Waisenhaus. Vor der Reise nach Neuseeland fürchtete sie sich zu Tode, war andererseits jedoch bereit, alles nur Erdenkliche zu tun, um ihre künftige Herrschaft zufrieden zu stellen. Dorothy hatte erst im Waisenhaus lesen und schreiben gelernt, bemühte sich aber nach Kräften, den Rückstand aufzuholen. Helen beschloss im Stillen, sie auf dem Schiff weiterzuunterrichten. Sie verspürte sofort Sympathie für das zierliche, dunkelhaarige Mädchen, das sicher zu einer Schönheit heranwachsen würde, wenn man es nur ordentlich fütterte und ihm endlich keinen Grund mehr gab, mit gebeugtem Rücken und wie ein geprügeltes Hündchen vor allem und jedem zu kuschen. Daphne, die Zweitälteste, war da schon mutiger. Sie hatte sich lange allein auf der Straße durchgeschlagen, und sicher war es eher Glück als Unschuld gewesen, dass man Daphne letztlich nicht bei irgendeinem Diebstahl erwischte, sondern krank und erschöpft unter einer Brücke fand. Im Waisenhaus behandelte man sie streng. Die Leiterin schien ihr flammend rotes Haar für ein untrügliches Zeichen von Lebenslust, ja Lebensgier zu halten und bestrafte sie für jeden übermütigen Seitenblick. Daphne war das Einzige der sechs Mädchen, das sich freiwillig für die Verschickung nach Übersee gemeldet hatte. Für Laurie und Mary, höchstens zehnjährige Zwillingsschwestern aus Chelsea, galt das sicher nicht. Beide waren nicht die Klügsten, wenn auch brav und halbwegs anstellig, wenn sie erst einmal begriffen hatten, was man von ihnen wollte. Laurie und Mary glaubten jedes Wort, das ihnen die böswilligen kleinen Jungen im Waisenhaus über die schrecklichen Gefahren der Seereise erzählt hatten, und so konnten sie kaum glauben, dass Helen die Überfahrt ohne größere Bedenken antrat. Elizabeth hingegen, eine verträumte Zwölfjährige mit langem, blondem Haar, fand es romantisch, sich auf den Weg zu einem unbekannten Ehemann zu begeben.
»Oh, Miss Helen, es wird sein wie im Märchen!«, flüsterte sie. Elizabeth lispelte ein wenig, wurde deshalb ständig gehänselt und erhob die Stimme nur selten. »Ein Prinz, der auf Sie wartet! Bestimmt verzehrt er sich nach Ihnen und träumt jede Nacht von Ihnen!«
Helen lachte und versuchte, sich aus der Umklammerung ihres jüngsten Zöglings, Rosemary, zu befreien. Rosie war angeblich elf Jahre alt, doch Helen schätzte das völlig eingeschüchterte Kind auf bestenfalls neun. Wer auf den Gedanken gekommen war, dieses verstörte Wesen könnte sich irgendwie selbst seinen Lebensunterhalt verdienen, war ihr schleierhaft. Rosemary hatte sich bisher an Dorothy geklammert. Nun, da sich ein freundlicher Erwachsener anbot, wechselte sie übergangslos zu Helen. Die fand es rührend, Rosies kleine Hand in der ihren zu spüren, wusste aber, dass sie die Anhänglichkeit des Mädchens nicht fördern durfte: Die Kinder waren bereits Dienstherren in Christchurch zugesagt, und so durfte sie in Rosie auf keinen Fall die Hoffnung schüren, sie könnte nach der Reise bei ihr bleiben.
Zumal Helens eigenes Schicksal ja ebenfalls noch völlig ungewiss war. Von Howard O’Keefe hatte sie nach wie vor nichts gehört.
Helen bereitete trotzdem eine Art Aussteuer vor. Sie investierte ihr weniges erspartes Geld in zwei neue Kleider und Unterkleidung und erstand ein wenig Bett-und Tischwäsche für ihr neues Heim. Gegen eine geringe Gebühr durfte sie auch ihren geliebten Schaukelstuhl mit auf die Reise nehmen, und Helen verbrachte Stunden damit, ihn sorgfältig zu verpacken. Schon um ihre Aufregung niederzukämpfen, begann sie früh mit den Reisevorbereitungen und war im Grunde schon vier Wochen vor Antritt der Überfahrt mit allem fertig. Lediglich die unangenehme Pflicht, ihre Familie von der Abreise in Kenntnis zu setzen, verschob sie fast bis zum Schluss. Doch irgendwann ließ es sich nicht länger hinauszögern – und die Reaktion war wie erwartet: Helens Schwester zeigte sich schockiert, ihre Brüder erbost. Wenn Helen nicht mehr gewillt war, für ihren Unterhalt aufzukommen, würden sie wieder bei Reverend Thorne unterschlüpfen müssen. Helen fand, dass es ihnen nur gut täte, und ließ es sie auch ziemlich unverblümt wissen.
Was ihre Schwester anging, nahm Helen deren Tiraden nicht eine Sekunde lang ernst. Susan führte zwar seitenlang aus, wie sehr sie ihre Schwester vermissen würde, und an manchen Stellen
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