Im Land Der Weissen Wolke
zeigte der Brief sogar Spuren von Tränen, die aber wohl eher darauf zurückzuführen waren, dass die Sorge um Johns und Simons Studiengebühren jetzt auf Susans Schultern lasten würde.
Als Susan und ihr Mann schließlich nach London kamen, um »doch noch einmal über die Sache zu reden«, ging Helen gar nicht auf Susans angeblichen Trennungsschmerz ein. Stattdessen erklärte sie, ihre Auswanderung würde an der Beziehung zu Susan kaum etwas ändern. »Viel öfter als zweimal im Jahr haben wir uns bis jetzt doch auch nicht geschrieben«, sagte Helen ein wenig boshaft. »Du hast genug mit deiner Familie zu tun, und mir wird es sicher bald nicht anders gehen.«
Wenn es doch nur endlich einen konkreten Anlass gäbe, daran zu glauben!
Doch Howard hüllte sich nach wie vor in Schweigen. Erst eine Woche vor Helens Abreise, als sie längst aufgegeben hatte, dem Briefträger an jedem Morgen aufzulauern, brachte ihr George einen Briefumschlag mit vielen bunten Marken.
»Hier, Miss Davenport!«, sagte der Junge aufgeregt. »Sie können ihn gleich öffnen. Ich verspreche, ich petze nicht, und ich schaue Ihnen auch nicht über die Schulter. Ich spiele mit William, okay?«
Helen war mit ihren Zöglingen im Garten; die Schulstunden hatte sie bereits beendet. William beschäftigte sich allein damit, den Ball planlos durch die Tore beim Krocket zu schlagen.
»George, du sollst nicht ›okay‹ sagen!«, tadelte Helen gewohnheitsmäßig, während sie mit unziemlicher Hast nach dem Brief griff. »Wo hast du das Wort überhaupt her? Aus diesen Schmuddelheften, die das Personal liest? Lass sie um Himmels willen nicht herumliegen. Wenn William ...«
»William kann nicht lesen«, fiel George ihr ins Wort. »Das wissen wir doch beide, Miss Davenport, egal was Mutter glaubt. Und ich werde nie wieder ›okay‹ sagen, ich versprech’s. Lesen Sie jetzt Ihren Brief?« Der Ausdruck auf Georges schmalem Gesicht war unerwartet ernst. Helen hätte eigentlich eher mit seinem üblichen, anzüglichen Grinsen gerechnet.
Aber was sollte es? Selbst wenn er seiner Mutter verriet, dass sie, Helen, während der Arbeit private Briefe las – in einer Woche würde sie auf See sein, wenn nicht ...
Helen riss den Brief mit zitternden Händen auf. Wenn Mr. O’Keefe nun kein Interesse mehr an ihr zeigte ...
Meine sehr verehrte Miss Davenport!
Worte vermögen nicht zu sagen, wie sehr Ihre Zeilen meine Seele berührt haben. Ich habe Ihren Brief nicht mehr aus den Händen gelassen, seit ich ihn vor wenigen Tagen erhielt. Er begleitet mich überall hin, bei der Arbeit auf der Farm, bei den seltenen Ausflügen in die Stadt – wann immer ich danach taste, empfinde ich Trost und eine überschäumende Freude, dass irgendwo, weit fort von mir, ein Herz für mich schlägt. Und ich muss zugeben, dass ich ihn in den dunkelsten Stunden meiner Einsamkeit mitunter verstohlen an die Lippen führe. Dieses Papier, das Sie berührt haben, über das Ihr Atem streifte, ist mir so heilig wie die wenigen Andenken an meine Familie, die ich heute noch wie Schätze hüte.
Wie aber soll es nun weitergehen mit uns? Verehrteste Miss Davenport, am liebsten würde ich Ihnen jetzt schon zurufen: Komm! Lassen wir beide unsere Einsamkeit hinter uns! Streifen wir unsere alte Haut der Verzweiflung und Dunkelheit ab! Lass uns gemeinsam neu beginnen!
Hier kann man es kaum erwarten, bis sich erste Frühlingsdüfte regen. Das Gras beginnt zu grünen, die Bäume tragen Knospen. Wie gern würde ich diesen Anblick, dieses berauschende Gefühl des erwachenden neuen Lebens mit Ihnen teilen! Dazu jedoch sind schnödere Überlegungen nötig als der Höhenflug aufkeimender Zuneigung. Ich würde Ihnen gern das Geld für die Überfahrt schicken, verehrte Miss Davenport – ach was, liebste Helen! Allerdings wird das warten müssen, bis meine Schafe abgelammt haben und der Ertrag der Farm für dieses Jahr absehbar wird. Schließlich möchte ich unser gemeinsames Leben auf keinen Fall gleich von Anbeginn mit Schulden belasten.
Haben Sie, verehrte Helen, Verständnis für diese Bedenken? Können Sie, wollen Sie warten, bis mein Ruf endgültig an Sie ergehen kann? Es gibt nichts, was ich mir auf Erden sehnlicher wünsche.
Es verbleibt Ihr über die Maßen ergebener
Howard O’Keefe
Helens Herz schlug so schnell, dass sie meinte, zum ersten Mal im Leben ein Riechfläschchen zu benötigen. Howard wollte sie, er liebte sie! Und nun konnte sie ihm die schönste Überraschung bereiten! Anstelle
Weitere Kostenlose Bücher