Im Land Der Weissen Wolke
eines Briefes würde sie selbst zu ihm eilen! Sie war Reverend Thorne unendlich dankbar! Sie war Lady Brennan unendlich dankbar! Ja, sogar George, der ihr eben die Nachricht gebracht hatte ...
»Sind ... sind Sie fertig mit dem Lesen, Miss Davenport?«
In ihrer Versunkenheit hatte Helen nicht bemerkt, dass der Junge immer noch neben ihr stand.
»Haben Sie gute Nachrichten?«
George sah eigentlich nicht so aus, als wollte er sich mit ihr darüber freuen. Im Gegenteil, der Junge wirkte verstört.
Helen betrachtete ihn besorgt, konnte ihr Glück dann aber nicht verhehlen.
»Die besten Nachrichten, die man haben kann!«, sagte sie verzückt.
George erwiderte ihr Lächeln nicht.
»Dann ... will er sie also wirklich heiraten? Er ... er sagt nicht, Sie sollten bleiben, wo Sie sind?«, fragte er tonlos.
»Aber George! Wieso sollte er?« In ihrer Seligkeit vergaß Helen ganz, dass sie ihre Bewerbung auf besagte Anzeige bislang standhaft vor ihren Schülern geleugnet hatte. »Wir passen wundervoll zusammen! Ein äußerst kultivierter junger Mann, der ...«
»Kultivierter als ich, Miss Davenport?«, brach es aus dem Jungen heraus. »Sind Sie sicher, dass er besser ist als ich? Klüger? Belesener? Weil ... wenn es nämlich nur die Liebe ist ... ich ... da kann er Sie nämlich nicht mehr lieben als ich ...«
George drehte sich weg, erschrocken über seine eigene Courage. Helen musste ihn an den Schultern fassen und zu sich umdrehen, um ihm wieder in die Augen zu sehen. Er schien unter ihrer Berührung zu erschauern.
»Aber George, was redest du denn da? Was weißt denn du von Liebe? Du bist sechzehn! Du bist mein Schüler!«, stieß Helen bestürzt hervor – und wusste im gleichen Augenblick, dass sie Unsinn sprach. Warum sollte man mit sechzehn nicht tief empfinden?
»Sieh mal, George, ich habe Howard und dich doch nie im Vergleich gesehen!«, setzte sie noch einmal an. »Oder gar als Konkurrenten. Schließlich wusste ich nicht, dass du ...«
»Das konnten Sie auch nicht wissen!« In Georges klugen braunen Augen spiegelte sich jetzt fast so etwas wie Hoffnung. »Ich hätte ... hätte es Ihnen eher sagen müssen. Schon vor dieser Sache mit Neuseeland. Aber ich hab mich nicht getraut ...«
Helen musste beinahe lächeln. Der Junge wirkte so jung und verletzlich, so ernsthaft in seiner kindischen Verliebtheit. Sie hätte es früher bemerken müssen! Im Nachhinein besehen hatte es viele Situationen gegeben, die darauf hindeuteten.
»Das war ganz richtig und normal, George«, sagte sie jetzt beschwichtigend. »Du hast selbst eingesehen, dass du viel zu jung bist für solche Dinge, und normalerweise hättest du sie nie zur Sprache gebracht. Wir wollen das jetzt auch vergessen ...«
»Ich bin zehn Jahre jünger als Sie, Miss Davenport«, wurde sie von George unterbrochen. »Und natürlich bin ich Ihr Schüler, aber ich bin kein Kind mehr! Ich fange jetzt mit dem Studium an, und in ein paar Jahren werde ich ein angesehener Kaufmann sein. Niemand wird dann nach meinem Alter und dem meiner Gattin fragen.«
»Aber ich frage danach«, sagte Helen sanft. »Ich wünsche mir einen Mann in meinem Alter, der zu mir passt. Es tut mir Leid, George ...«
»Und woher wissen Sie, dass dieser Briefschreiber Ihren Vorstellungen entspricht?«, fragte der Junge gequält. »Warum lieben Sie ihn? Sie haben doch gerade zum ersten Mal einen Brief von ihm erhalten! Hat er sein Alter genannt? Wissen Sie, ob er Sie angemessen ernähren und kleiden kann? Ob es etwas gibt, worüber Sie miteinander reden können? Mit mir und meinem Vater haben Sie sich immer gut unterhalten. Wenn Sie also auf mich warten ... nur ein paar Jahre, Miss Davenport, bis ich mein Studium beendet habe! Bitte, Miss Davenport! Bitte geben Sie mir eine Chance!«
Der Junge griff unbeherrscht nach ihrer Hand.
Helen riss sich los.
»Es tut mir Leid, George. Es ist nicht so, als würde ich dich nicht mögen, im Gegenteil. Aber ich bin deine Lehrerin, und du bist mein Schüler. Daraus kann nicht mehr werden ... zumal du in ein paar Jahren ganz anders darüber denken wirst.«
Helen stellte sich kurz die Frage, ob Richard Greenwood etwas von der blinden Verliebtheit seines Sohnes geahnt hatte. Verdankte sie ihm die großzügig gespendete Schiffspassage vielleicht auch deshalb, weil er dem Jungen die Hoffnungslosigkeit seiner Vernarrtheit vor Augen führen wollte?
»Ich werde nie anders darüber denken!«, sagte George leidenschaftlich. »Sobald ich volljährig bin, sobald
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