Im Land Der Weissen Wolke
hier Flöhe!«
»Können wir nicht mit Ihnen kommen, Miss Helen? Und was ist das mit diesen Leuten, die vielleicht noch kommen? Wollen die uns holen, Miss Helen?«
Helen seufzte. Sie hatte während der ganzen Reise versucht, die Mädchen auf die bevorstehende Trennung am Tag nach der Ankunft vorzubereiten. Aber die Gruppe heute noch auseinander zu reißen, hielt sie nicht für klug. Zugleich wollte sie Mrs. Baldwin nicht noch mehr gegen sich und die Mädchen aufbringen. Also antwortete sie ausweichend.
»Richtet euch erst mal ein, und ruht euch aus, Mädchen. Alles andere wird sich finden, macht euch keine Sorgen.« Tröstend streichelte sie über Lauries und Marys blonden Schopf. Die Kinder waren sichtlich am Ende ihrer Kräfte. Dorothy richtete eben das Bett für Rosemary, die fast schon schlief. Helen nickte ihr anerkennend zu.
»Ich sehe nachher noch mal nach euch«, erklärte sie. »Versprochen!«
8
»Die Mädchen machen einen ziemlich verwöhnten Eindruck«, bemerkte Mrs. Baldwin mit verkniffener Miene. »Ich hoffe, sie werden ihren künftigen Dienstherren wirklich nützlich sein.«
»Es sind Kinder!«, seufzte Helen. Hatte sie dieses Gespräch nicht schon mit Mrs. Greenwood vom Londoner Waisenhauskomitee geführt? »Im Grunde sind erst zwei von ihnen alt genug, um eine Stelle antreten zu können. Aber alle sind brav und anstellig. Ich denke, es wird sich keiner beschweren.«
Mrs. Baldwin schien damit vorerst zufrieden. Sie führte Helen in ihr Gästezimmer, und zum ersten Mal an diesem Tag war die junge Frau angenehm überrascht. Das Zimmer war hell und sauber, mit Blümchentapeten und Gardinen im Landhausstil einladend eingerichtet, und das Bett war breit und bequem. Helen atmete auf. Sie war hier zwar in ländlicher Gegend gestrandet, aber doch nicht fern jeder Zivilisation. Dazu erschien eben das dickliche Mädchen und brachte eine große Kanne warmes Wasser, das sie in Helens Waschgeschirr ausleerte.
»Machen Sie sich zunächst ein wenig frisch, Miss Davenport«, meinte Mrs. Baldwin. »Danach erwarten wir Sie zum Dinner. Es gibt nichts Besonderes, wir waren ja nicht auf Gäste vorbereitet. Aber wenn Sie Huhn und Kartoffelbrei mögen ...«
Helen lächelte. »Ich bin so hungrig, dass ich das Huhn und die Erdäpfel roh verspeisen würde. Und die Mädchen ...«
Mrs. Baldwin schien nahe daran, die Geduld zu verlieren. »Für die Mädchen wird gesorgt!«, erklärte sie abweisend. »Ich sehe Sie dann gleich, Miss Davenport.«
Helen nahm sich Zeit, sich ausgiebig zu waschen, ihr Haar zu lösen und neu aufzustecken. Sie überlegte, ob es lohnte, sich umzuziehen. Helen besaß nur wenige Kleider, von denen zwei obendrein schmutzig waren. Ihre beste Garderobe hätte sie sich eigentlich gern für die Begegnung mit Howard aufgespart. Andererseits konnte sie auch nicht so abgerissen und verschwitzt, wie sie sich heute fühlte, zum Dinner bei den Baldwins erscheinen. Schließlich entschied sie sich für das dunkelblaue Seidenkleid. Am ersten Abend in ihrem neuen Heimatland war etwas Festliches durchaus angesagt.
Das Essen wurde bereits aufgetragen, als Helen schließlich das Speisezimmer der Baldwins betrat. Auch hier übertraf die Einrichtung ihre Erwartungen. Buffet, Tisch und Stühle waren aus schwerem Teakholz und mit kunstvollen Schnitzereien versehen. Entweder hatten die Baldwins die Möbel aus England mitgebracht, oder Christchurch hatte exzellente Kunsttischler aufzuweisen. Letzterer Gedanke tröstete Helen. Sie würde sich notfalls an ein Holzhaus gewöhnen können, wenn es innen nur wohnlich gestaltet war.
Jetzt bereitete ihr die Verspätung leichtes Unbehagen, doch abgesehen von Baldwins ohnehin ziemlich verzogener Tochter standen alle sofort auf, um sie willkommen zu heißen. Außer Mrs. Baldwin und Belinda gehörten noch der Reverend sowie ein junger Vikar zur Tischgemeinschaft. Reverend Baldwin war ein großer, hagerer Mann, der äußerst streng wirkte. Er war förmlich gekleidet – sein dreiteiliger, dunkelbrauner Tuchanzug schien fast zu edel für die häusliche Tafel –, und er lächelte nicht, als er Helen die Hand reichte. Stattdessen schien er sie prüfend zu mustern.
»Sie sind die Tochter eines Amtsbruders?«, erkundigte er sich mit sonorer Stimme, die sicher einen Kirchenraum zu füllen vermochte.
Helen nickte und erzählte von Liverpool. »Ich weiß, dass die Umstände meines Besuchs in Ihrem Haus ein wenig ungewöhnlich sind«, gab sie errötend zu. »Aber wir alle folgen den
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