Im Land Der Weissen Wolke
fühlen. Vielleicht würde sie Lucas nicht lieben, aber ganz sicher dieses Land!
Helen kam zu dem Ergebnis, dass sie sich arrangieren musste. Das hier war nicht, was sie sich vorgestellt hatte, andererseits war ihr von allen Seiten versichert worden, Christchurch sei eine aufstrebende Gemeinde. Die Stadt würde wachsen. Irgendwann würde es Schulen geben und Bibliotheken – vielleicht konnte sie sogar ihren Beitrag dazu leisten, das alles aufzubauen. Howard schien ein kulturinteressierter Mann zu sein; bestimmt würde er sie unterstützen. Und überhaupt: Sie musste nicht das Land lieben, sondern ihren Gatten. Entschlossen schluckte sie ihre Enttäuschung herunter und wandte sich den Mädchen zu.
»Auf geht’s, Kinder. Ihr hattet eure Erfrischung, jetzt müssen wir weiter. Aber bergab ist es nicht mehr so schlimm. Und immerhin können wir das Ziel jetzt schon sehen. Kommt, die Kleinen machen einen Wettlauf! Wer zuerst am nächsten Gasthof ist, bekommt eine Extra-Limonade!«
Der nächste Gasthof war nicht weit. Schon in den Ausläufern der Berge fanden sich die ersten Häuser. Der Weg wurde nun auch breiter, und die Reiter konnten die Fußgänger überholen. Cleo trieb die Schafherde gekonnt an den Siedlern vorbei, und Gwyn folgte auf der noch immer tänzelnden Igraine. Vorhin, auf den wirklich gefährlichen Pfaden, hatten die Cobs sich allerdings vorbildlich ruhig verhalten. Auch der kleine Madoc kletterte geschickt über die steinigen Wege, und Gerald hatte sich bald sicherer gefühlt. Er war inzwischen entschlossen, die unerfreuliche Episode mit Gwyneira zu vergessen. Gut, das Mädchen hatte seinen Willen durchgesetzt, aber das durfte nicht wieder vorkommen. Der Wildheit dieser kleinen walisischen Prinzessin mussten Zügel angelegt werden. Was das anging, war Gerald jedoch optimistisch: Lucas würde von seiner Ehefrau ein untadeliges Verhalten fordern, und Gwyneira war für das Leben an der Seite eines Gentlemans erzogen. Jagdreiten und Hundedressur mochten ihr besser gefallen, doch auf Dauer würde sie sich in ihr Schicksal fügen.
Die Reisenden erreichten den Fluss Avon im Licht des ausgehenden Tages, und die Reiter wurden sofort übergesetzt. Es war auch noch Zeit genug, die Schafe auf die Fähre zu verladen, bevor die Fußgänger eintrafen, sodass Helens Begleiter nur über die mit Schafdung verschmutzte Fähre schimpfen konnten, nicht über Verzögerungen.
Die Londoner Mädchen schauten verzückt in das glasklare Wasser des Flusses, kannten sie bislang doch nur die verschmutzte, stinkende Themse. Helen war inzwischen alles egal; sie sehnte sich nur noch nach einem Bett. Hoffentlich würde der Reverend sie wenigstens gastfreundlich aufnehmen. Er musste etwas für die Mädchen vorbereitet haben; es war unmöglich, dass er sie heute schon auf die Häuser ihrer Herrschaft verteilte.
Erschöpft fragte Helen vor dem Hotel und dem Mietstall nach dem Weg zum Pfarrhaus. Dabei sah sie Gwyneira und Mr. Warden, die eben aus den Ställen kamen. Sie hatten die Tiere gut untergebracht, und jetzt erwartete sie ein festliches Dinner. Helen beneidete ihre Freundin glühend. Wie gern hätte sie sich zunächst in einem sauberen Hotelzimmer frisch gemacht und dann an einen gedeckten Tisch gesetzt! Aber vor ihr lagen noch der Marsch durch die Straßen von Christchurch und dann die Verhandlungen mit dem Pfarrer. Die Mädchen hinter ihr murrten, und die Kleinen weinten vor Müdigkeit.
Nun war der Weg zur Kirche zum Glück nicht lang; bisher gab es in ganz Christchurch keine weiten Wege. Helen brauchte ihre Mädchen nur um drei Straßenecken zu führen, dann standen sie vor dem Pfarrhaus. Verglichen mit Helens Vaterhaus und dem Haus der Thornes wirkte das gelb gestrichene Holzgebäude ärmlich, aber die Kirche nebenan war kaum repräsentativer. Immerhin zierte die Haustür ein schöner Messing-Türklopfer in Form eines Löwenkopfes. Daphne betätigte ihn beherzt.
Zunächst geschah nichts. Dann erschien ein breitgesichtiges, mürrisches Mädchen im Türrahmen.
»Was wollt ihr denn?«, fragte sie unfreundlich.
Alle Mädchen außer Daphne wichen erschrocken zurück. Helen schob sich vor.
»Zuerst einmal möchten wir Ihnen einen guten Abend wünschen, Miss!«, erklärte sie resolut. »Und dann würde ich gern Reverend Baldwin sprechen. Mein Name ist Helen Davenport. Lady Brennan muss mich in einem ihrer Briefe erwähnt haben. Und das sind die Mädchen, die der Reverend aus London angefordert hat, um sie hier in Stellung zu
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