Im Land Der Weissen Wolke
geben.«
Die junge Frau nickte und gab sich jetzt etwas freundlicher. Einen Gruß rang sie sich jedoch noch immer nicht ab, sondern warf den Waisenkindern weitere missbilligende Blicke zu. »Ich glaub, meine Mutter hat Sie erst morgen erwartet. Ich sag mal Bescheid.«
Die junge Frau wollte gehen, doch Helen rief sie zurück.
»Miss Baldwin, die Kinder und ich haben eine Reise von achtzehntausend Meilen hinter uns. Meinen Sie nicht, dass es die Höflichkeit gebietet, uns erst einmal hereinzubitten und uns eine Sitzgelegenheit anzuweisen?«
Das Mädchen verzog das Gesicht. »Sie können ja reinkommen«, bemerkte sie. »Aber die Bälger nicht. Wer weiß, was für Ungeziefer die nach der Reise auf dem Zwischendeck einschleppen. Das will meine Mutter bestimmt nicht im Haus haben.«
Helen kochte vor Wut, zügelte sich aber.
»Dann warte ich auch hier draußen. Ich habe mit den Mädchen eine Kabine geteilt. Wenn sie Ungeziefer haben, dann habe ich es auch.«
»Wie Sie wollen«, meinte das Mädchen desinteressiert, schlurfte zurück ins Haus und zog die Tür hinter sich zu.
»Eine richtige Lady!«, sagte Daphne grinsend. »Irgendwas an Ihrem Unterricht, Miss Davenport, muss ich falsch verstanden haben.«
Helen hätte sie eigentlich rügen müssen, doch es fehlte ihr an Energie. Und falls die Mutter sich ähnlich christlich aufführen würde wie die Tochter, brauchte sie noch ein wenig Kampfkraft.
Immerhin erschien Mrs. Baldwin sehr schnell und bemühte sich auch um ein freundliches Auftreten. Sie war kleiner und nicht ganz so füllig wie ihre Tochter. Vor allem besaß sie nicht deren Pfannkuchengesicht. Stattdessen wirkten ihre Züge eher habichthaft, mit kleinen, eng zusammenstehenden Augen und einem Mund, der sich zum Lächeln zwingen musste.
»Das ist ja eine Überraschung, Miss Davenport! Aber Mrs. Brennan hat Sie tatsächlich erwähnt – und sehr positiv, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf. Bitte kommen Sie doch herein, Belinda richtet bereits das Gästezimmer für Sie her. Tja, und die Mädchen werden wir wohl auch eine Nacht unterbringen müssen. Obwohl ...« Sie überlegte kurz und schien im Geist eine Namensliste durchzugehen. »Die Lavenders und Mrs. Godewind wohnen in der Nähe. Da kann ich gleich noch jemanden hinschicken. Vielleicht möchten sie ihre Mädchen ja heute noch in Empfang nehmen. Die verbleibenden Kinder können dann im Stall schlafen. Jetzt kommen Sie aber erst mal herein, Miss Davenport. Es wird kalt hier draußen!«
Helen seufzte. Sie wäre der Einladung gern gefolgt, aber so ging es natürlich nicht.
»Mrs. Baldwin, auch den Mädchen ist kalt. Sie haben einen Fußweg von zwölf Meilen hinter sich und brauchen ein Bett und eine warme Mahlzeit. Und bis sie ihren Dienstherren übergeben werden, trage ich die Verantwortung für sie. Das war mit der Leitung des Waisenhauses vereinbart, und dafür wurde ich bezahlt. Also zeigen Sie mir bitte zuerst die Unterkunft der Mädchen, danach will ich Ihre Gastfreundschaft gern auch für mich in Anspruch nehmen.«
Mrs. Baldwin verzog das Gesicht, äußerte sich aber nicht weiter. Stattdessen wühlte sie einen Schlüssel aus den Taschen der weiten Schürze, die sie über einem teuren Hauskleid trug, und führte die Mädchen und Helen um die Hausecke. Hier gab es einen Stall für ein Pferd und eine Kuh. Das Heulager daneben roch würzig und war mit ein paar Decken wohnlich einzurichten. Helen ergab sich in das Unvermeidliche.
»Ihr habt es gehört, Mädchen. Heute Nacht werdet ihr hier schlafen«, wies sie die Kinder an. »Breitet eure Betttücher aus – schön sorgfältig, sonst sind eure Kleider nachher voller Heu. Wasser zum Waschen gibt es sicher in der Küche. Ich sorge dafür, dass es euch zur Verfügung gestellt wird. Und ich komme später nachsehen, ob ihr euch wie ordentliche Christenmädchen auf die Nacht vorbereitet! Erst waschen, dann beten!« Helen wollte streng klingen, doch so ganz schaffte sie das heute nicht. Auch sie selbst hätte keine Lust gehabt, sich in diesem Stall halb zu entkleiden und mit kaltem Wasser zu waschen. Dementsprechend würde ihre heutige Kontrolle nicht allzu streng ausfallen. Die Mädchen schienen die Anweisungen auch nicht übermäßig ernst zu nehmen. Statt sie mit einem braven »Ja, Miss Helen« zu quittieren, bestürmten sie ihre Lehrerin mit weiteren Fragen.
»Kriegen wir nichts zu essen, Miss Helen?«
»Ich kann nicht auf dem Stroh schlafen, Miss Helen, da ekle ich mich!«
»Bestimmt gibt’s
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