Im Land Der Weissen Wolke
Wegen des Herrn, und der weist uns nicht immer die ausgetretenen Pfade.«
Reverend Baldwin nickte. »Das ist wohl wahr, Miss Davenport«, erklärte er gewichtig. »Wer wüsste das besser als wir. Auch ich hatte nicht unbedingt damit gerechnet, dass meine Kirche mich ans Ende der Welt versetzt. Aber dies ist ein vielversprechender Ort. Mit Gottes Hilfe werden wir ihn zu einer christlich geprägten, lebendigen Stadt formen. Sie wissen wahrscheinlich, dass Christchurch Bischofssitz werden soll ...«
Helen nickte eifrig. Sie ahnte zudem, warum Reverend Baldwin sich dem Ruf nach Neuseeland nicht widersetzt hatte, obwohl er sich nicht so anhörte, als habe er England bereitwillig den Rücken gekehrt. Der Mann schien Ehrgeiz zu haben – wenn auch nicht die Beziehungen, die man in England zweifellos brauchte, um die Stelle eines Bischofs zu erhalten. Hier dagegen ... Baldwin machte sich unzweifelhaft Hoffnungen. Ob er als Seelsorger ebenso viel taugte wie als kluger Stratege der Kirchenpolitik?
Der junge Vikar an Baldwins Seite war Helen jedenfalls deutlich sympathischer. Er lächelte ihr offen zu, als Baldwin ihn als William Chester vorstellte, und sein Händedruck war warm und freundlich. Chester war von zierlicher Gestalt, dünn und blass, mit einem knochigen Allerweltsgesicht, entschieden zu langer Nase und zu breitem Mund. Aber das alles wurde durch lebhafte, kluge braune Augen wettgemacht.
»Mr. O’Keefe hat mir von Ihnen vorgeschwärmt!«, erklärte er eifrig, nachdem er an Helens Seite Platz genommen hatte und ihr freigebig Kartoffelbrei und Hühnchen auf den Teller schaufelte. »Er war so glücklich über Ihren Brief ... ich wette, er wird gleich in den nächsten Tagen hier sein, sobald er von der Ankunft der Dublin hört. Er hofft ja auf weitere Post. Und wie überrascht er sein wird, Sie gleich hier vorzufinden!« Vikar Chester wirkte so begeistert, als hätte er das junge Paar höchstselbst zusammengeführt.
»In den nächsten Tagen?«, fragte Helen verblüfft. Sie hatte fest damit gerechnet, Howard morgen kennen zu lernen. Es konnte doch kein Problem sein, eben einen Boten zu seinem Haus zu schicken.
»Nun ja, so schnell verbreiten die Neuigkeiten sich nicht bis nach Haldon«, meinte Chester. »Mit einer Woche Wartezeit müssen Sie schon rechnen. Aber es kann auch schneller gehen! Ist Gerald Warden heute nicht mit der Dublin eingetroffen? Sein Sohn erwähnte, er sei unterwegs. Wenn der wieder da ist, spricht sich das schnell herum. Machen Sie sich keine Gedanken!«
»Und bis Ihr Verlobter eintrifft, sind Sie hier herzlich willkommen!«, versicherte Mrs. Baldwin, auch wenn ihr Gesicht alles andere als Herzlichkeit ausdrückte.
Helen fühlte sich trotzdem unsicher. War Haldon denn kein Vorort von Christchurch? Wie weit würde ihre Reise sie wohl noch führen?
Sie wollte eben fragen, als die Tür aufgerissen wurde. Ohne um Einlass zu bitten oder gar zu grüßen, stürmten Daphne und Rosemary herein. Beide hatten das Haar schon zum Schlafen gelöst, und in Rosies braunen Locken hafteten Heuhalme. Daphnes ungebärdige rote Strähnen umrahmten ihr Gesicht, als wäre es in Flammen gehüllt. Und auch ihre Augen sprühten Funken, als sie die reich gedeckte Tafel des Reverends mit einem Blick erfasste. Helen wurde sofort von Gewissensbissen gequält. Daphnes Ausdruck nach zu urteilen, hatte man den Mädchen noch nichts zu essen gegeben.
Aber jetzt hatten die beiden offensichtlich andere Sorgen. Rosemary rannte auf Helen zu und zerrte an ihrem Rock. »Miss Helen, Miss Helen, sie holen Laurie weg! Bitte, Sie müssen was tun! Mary schreit und weint und Laurie auch!«
»Und Elizabeth wollen sie auch holen!«, jammerte Daphne. »Bitte, Miss Helen, tun Sie was!«
Helen sprang auf. Wenn die sonst so gelassene Daphne derart alarmiert wirkte, musste etwas Schreckliches vorgefallen sein.
Argwöhnisch blickte sie in die Runde.
»Was geht da vor?«, erkundigte sie sich.
Mrs. Baldwin verdrehte die Augen. »Nichts, Miss Davenport. Ich hatte Ihnen doch gesagt, wir könnten zwei der künftigen Dienstherren der Waisenkinder heute noch erreichen. Nun sind sie da, um die Mädchen abzuholen.« Sie zog einen Zettel aus der Tasche. »Hier: Laurie Alliston geht zu den Lavenders und Elizabeth Beans zu Mrs. Godewind. Das ist alles ganz richtig. Ich verstehe gar nicht, warum solch ein Lärm darum gemacht wird.« Strafend blickte sie Daphne und Rosemary an. Die Kleine weinte. Daphne hingegen erwiderte den Blick mit flammenden
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