Im Land Der Weissen Wolke
Augen.
»Laurie und Mary sind Zwillinge«, erklärte Helen. Sie war wütend, zwang sich aber, ruhig zu bleiben. »Sie wurden noch nie getrennt. Ich verstehe nicht, wie man sie in verschiedenen Familien unterbringen kann! Da muss ein Fehler vorliegen. Und Elizabeth möchte sicher auch nicht gehen, ohne sich zu verabschieden. Bitte, kommen Sie mit, Reverend, und klären Sie das!« Helen beschloss, sich nicht länger mit der kaltherzigen Mrs. Baldwin aufzuhalten. Die Kinder fielen in den Aufgabenbereich des Reverends, also sollte er sich jetzt gefälligst darum kümmern.
Der Pfarrer erhob sich schließlich, wenn auch sichtlich unwillig.
»Niemand hat uns das mit den Zwillingen gesagt«, erklärte er, als er bedächtig neben Helen zum Stall schritt. »Natürlich lag es nahe, dass die Mädchen Schwestern sind, aber es ist gänzlich unmöglich, sie im gleichen Haushalt unterzubringen. Hier gibt es kaum englische Dienstboten. Für diese Mädchen gibt es eine Warteliste. Wir können nicht einer Familie zwei Mädchen geben.«
»Aber eine allein wird den Leuten nichts nützen, die Kinder kleben wie die Kletten aneinander!«, gab Helen zu bedenken.
»Sie werden sich voneinander lösen müssen«, erwiderte der Reverend knapp.
Vor dem Stall warteten zwei Fahrzeuge, eines davon ein Lieferwagen, vor dem zwei schwere Braune gelangweilt warteten. Den anderen Wagen, einen eleganten, schwarzen Einspänner, zog ein lebhaftes Pony, das kaum stillstehen mochte. Ein großer, hagerer Mann hielt es mit leichter Hand am Zügel und brummte ihm gelegentlich beruhigende Worte zu. Allerdings wirkte auch er aufgebracht. Kopfschüttelnd blickte er immer wieder zum Stall, in dem das Weinen und Klagen der Mädchen nicht abriss. Helen meinte Mitleid in seinem Blick zu erkennen.
In den Polstern der kleinen Chaise residierte eine zierliche ältere Dame. Sie war schwarz gekleidet, wozu ihr schneeweißes, ordentlich unter einer Haube aufgestecktes Haar einen interessanten Kontrast bildete. Auch ihr Teint war sehr hell, porzellanklar und nur von winzigen Falten durchzogen wie alte Seide. Vor ihr stand Elizabeth und knickste artig. Die alte Dame schien sich freundlich und huldvoll mit dem Mädchen zu unterhalten. Nur ab und zu blickten die beiden irritiert und bedauernd zum Stall hinüber.
»Jones«, sagte die Lady schließlich zu ihrem Fahrer, als Helen und der Reverend vorbeikamen. »Können Sie nicht hineingehen und das Gejammer abstellen? Es stört uns doch sehr. Diese Kinder weinen sich ja die Augen aus! Finden Sie doch bitte heraus, um was es geht, und lösen Sie das Problem.«
Der Fahrer fixierte die Zügel am Bock und stand auf. Allzu begeistert wirkte er nicht. Wahrscheinlich gehörte das Trösten weinender Kinder nicht zu seinen üblichen Aufgaben.
Die alte Lady hatte inzwischen Reverend Baldwin bemerkt und grüßte freundlich.
»Guten Abend, Reverend! Schön, Sie zu sehen. Aber ich will Sie nicht aufhalten, da drin ist offensichtlich Ihre Anwesenheit vonnöten.« Sie wies auf den Stall, woraufhin ihr Fahrer sich aufatmend zurück auf seinen Platz fallen ließ. Wenn der Reverend selbst sich um die Sache kümmerte, wurde er ja wohl nicht mehr gebraucht.
Baldwin schien zu überlegen, ob er Helen und die Lady erst noch förmlich einander vorstellen sollte, bevor er den Stall betrat. Dann aber sah er davon ab und begab sich ins Zentrum des Aufruhrs.
Mary und Laurie, in der Mitte des Heulagers, hielten sich schluchzend umklammert, während eine kräftige Frau versuchte, sie auseinander zu zerren. Ein breitschultriger, offensichtlich aber friedfertiger Mann stand hilflos daneben. Auch Dorothy schien unschlüssig, ob sie tätlich werden oder nur bitten und flehen sollte.
»Warum nehmen Sie denn nicht beide mit?«, fragte sie verzweifelt. »Bitte, Sie sehen doch, dass es so nicht geht.«
Der Mann schien ganz ihrer Meinung zu sein. Mit drängendem Unterton wandte er sich an seine Gattin. »Ja, Anna, zumindest sollten wir den Reverend bitten, uns beide Mädchen zu geben. Die Kleine ist noch so jung und zart. Die kann die schwere Arbeit allein gar nicht leisten. Doch wenn die zwei sich helfen ...«
»Wenn die zwei zusammen bleiben, tratschen sie nur und tun nichts!«, sagte die Frau mitleidlos. Helen blickte in kalte blaue Augen in einem klaren, selbstzufriedenen Gesicht. »Wir hatten nur eine angefordert – und nur eine nehmen wir auch mit.«
»Dann nehmen Sie doch mich!«, bot Dorothy sich an. »Ich bin größer und stärker und
Weitere Kostenlose Bücher