Im Land Der Weissen Wolke
nachdachte. Meist hatte er auch keine Hemmungen, diese Überlegungen vor seinen Zuhörern wortreich auszubreiten, doch heute hielt er sich zurück. Lag es daran, dass Lucas hier die Verantwortung trug? Wollte er seinen Sohn vor dessen Verlobten nicht schlecht machen – unmittelbar vor ihrem ersten Zusammentreffen?
Gwyneira hielt es inzwischen vor Spannung kaum noch aus. Sie wollte das Haus sehen – und vor allem ihren künftigen Gatten. Auf den letzten Meilen malte sie sich aus, wie er ihr lachend aus dem Haupthaus einer stattlichen Farm wie jener der Beasleys entgegenkam. Inzwischen passierten sie schon Nebengebäude von Kiward Station. Gerald hatte überall auf seinem Gelände Unterstände für die Schafe sowie Scherschuppen anlegen lassen. Gwyneira fand das sehr umsichtig, wunderte sich jedoch über die Größe der Anlagen. In Wales hatte der Schafbestand ihres Vaters mit etwa 400 Zuchttieren als groß gegolten. Hier aber rechnete man in Tausenden!
»So, Gwyneira, und nun bin ich gespannt, was du sagst!«
Es war später Nachmittag, und Gerald strahlte übers ganze Gesicht, als er sein Pferd neben Igraine lenkte. Die Stute hatte ihre Hufe eben von den üblichen Schlammwegen auf einen befestigten Zufahrtsweg gesetzt, der von einem kleinen See aus um einen Hügel herum führte. Ein paar Schritte weiter tat sich der Blick auf das Haupthaus der Farm auf.
»Da wären wir, Lady Gwyneira!«, sagte Gerald stolz. »Willkommen auf Kiward Station!«
Gwyneira hätte vorbereitet sein sollen, fiel aber trotzdem vor Überraschung fast vom Pferd. Vor ihr in der Sonne, mitten im endlosen Grasland und vor der Kulisse der Alpen, erblickte sie ein englisches Herrenhaus! Nicht so groß wie Silkham Manor und mit weniger Türmchen und Seitengebäuden, ansonsten aber in jeder Hinsicht vergleichbar. Kiward Station war im Grunde sogar schöner, weil es perfekt von einem Architekten durchgeplant war, statt immer wieder umgebaut und erweitert wie die meisten englischen Herrensitze. Das Haus war aus grauem Sandstein errichtet, wie Gerald angekündigt hatte. Es besaß Erker und große, teilweise mit kleinen Balkonen versehene Fenster; davor erstreckte sich eine weitläufige Zufahrt mit Blumenbeeten, die allerdings noch nicht bepflanzt waren. Gwyneira beschloss, Rata-Büsche zu setzen. Die würden die Fassade auflockern und waren darüber hinaus wohl leicht zu pflegen.
Ansonsten aber erschien ihr alles wie ein Traum. Sicher würde sie gleich aufwachen und feststellen, dass es das seltsame Black-Jack-Spiel niemals gegeben hatte. Stattdessen hatte ihr Vater sie mit der Mitgift aus dem Schafhandel an irgendeinen Waliser Adligen verheiratet, und nun sollte sie ein Herrenhaus bei Cardiff in Besitz nehmen.
Lediglich das Personal, das sich jetzt wie in England zum Empfang der Herrschaft vor dem Portal aufreihte, passte nicht ins Bild. Die Diener trugen zwar Livree und die Hausmädchen Schürzen mit Häubchen, doch ihre Haut war dunkel, und auf vielen Gesichtern prangten Tätowierungen.
»Willkommen, Mr. Gerald!«, begrüßte ein gedrungener kleiner Mann seinen Herrn und lachte dabei über das ganze, großflächige Gesicht, das die ideale »Leinwand« für die typischen Tätowierungen bildete. Mit großer Geste umfasste er den immer noch blauen Himmel und das sonnenbeschienene Land. »Und willkommen, Miss! Sie sehen – strahlt rangi , Himmel, vor Freude über Ankunft und schenkt papa , Erde, ein Lächeln, weil Sie wandern darüber!«
Gwyneira war gerührt über diese herzliche Begrüßung. Spontan streckte sie dem kleinen Mann die Hand entgegen.
»Das ist Witi, unser Hausdiener«, stellte Gerald ihn vor. »Und das sind unser Gärtner, Hoturapa, und die Haus-und Küchenmädchen, Moana und Kiri.«
»Miss ... Gwa ... ne ...« Moana wollte knicksen und Gwyneira dabei formvollendet begrüßen, aber offensichtlich war der keltische Name unaussprechlich für sie.
»Miss Gwyn«, verkürzte Gwyneira. »Nennt mich einfach Miss Gwyn!«
Ihr selbst fiel es nicht schwer, sich die Namen der Maoris zu merken, und sie beschloss, möglichst bald ein paar Höflichkeitsfloskeln in ihrer Sprache zu lernen.
Das also war das Personal. Gwyneira erschien es ziemlich klein für ein so großes Haus. Und wo war Lucas? Warum stand er nicht hier, um sie zu begrüßen und willkommen zu heißen?
»Wo ist denn ...« Gwyneira setzte an, die brennende Frage nach ihrem Zukünftigen zu stellen, doch Gerald kam ihr zuvor. Und er schien von Lucas’ Ausbleiben ebenso wenig
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