Im Land Der Weissen Wolke
anderer Mensch, Miss Davenport, Sie glauben es nicht. Sie scheint jeden Tag jünger zu werden, lacht und scherzt mit dem Mädchen. Und Elizabeth ist so ein reizendes Kind, immer bemüht, meiner Frau etwas abzunehmen und stets gut gelaunt. Und lesen kann das Mädel! Meiner Seel, wenn ich irgend kann, finde ich eine Arbeit im Haus, wenn die Kleine Mrs. Godewind vorliest. Sie macht das mit so schöner Stimme und Betonung – man meint, man wäre Teil der Geschichte.«
Elizabeth hatte auch Helens Lektionen über das Bedienen und das Verhalten bei Tisch nicht verlernt. Geschickt und fürsorglich goss sie Tee ein und reichte Gebäck herum; dabei sah sie entzückend aus in ihrem neuen blauen Kleid und dem adretten weißen Häubchen.
Sie weinte allerdings, als sie von Laurie und Mary hörte, und schien auch Helens abgeschwächter Version der Geschichte von Daphne und Dorothy mehr zu entnehmen, als Helen angenommen hatte. Elizabeth war zwar eine Träumerin, aber auch sie hatte man als Londoner Straßenkind aufgegriffen. Jetzt vergoss sie heiße Tränen um Daphne und bewies größtes Vertrauen zu ihrer neuen Herrin, die sie sogleich um Hilfe anflehte.
»Können wir nicht Mr. Jones hinschicken und Daphne wegholen? Und die Zwillinge? Bitte, Mrs. Godewind, wir finden hier sicher Arbeit für sie. Man muss doch etwas tun können!«
Mrs. Godewind schüttelte den Kopf. »Leider nicht, Kind. Diese Leute haben Arbeitsverträge mit dem Waisenhaus abgeschlossen, so wie ich auch. Da können die Mädchen nicht einfach weglaufen. Und wir kämen in Teufels Küche, wenn wir ihnen dabei noch Hilfestellung leisteten! Es tut mir Leid, Liebes, aber die Mädchen müssen selbst zusehen, wie sie überleben. Wobei ich mir nach allem, was Sie sagen«, Mrs. Godewind wandte sich Helen zu, »kaum Sorgen um die kleine Daphne mache. Die wird sich schon durchbeißen. Aber die Zwillingsmädchen ... ach, es ist traurig. Schenk uns noch einmal Tee ein, Elizabeth. Dann wollen wir ein Gebet für sie sprechen, vielleicht wird sich wenigstens Gott ihrer annehmen.«
Doch Gott mischte die Karten für Helen, während sie in Mrs. Godewinds gemütlichem Salon saß und Teekuchen aus Mr. und Mrs. McLarens Bäckerei genoss. Vikar Chester erwartete sie schon aufgeregt vor dem Haus der Baldwins, als Jones Helen die Tür der Chaise aufhielt.
»Wo bleiben Sie nur, Miss Davenport? Ich hatte die Hoffnung fast schon aufgegeben, Sie heute noch vorstellen zu können. Wunderhübsch sehen Sie aus, als ob Sie es geahnt hätten! Und jetzt kommen Sie, rasch! Im Salon wartet Mr. O’Keefe.«
Das Portal von Kiward Station führte zunächst in eine geräumige Eingangshalle, in der Gäste ablegen und die Damen kurz ihr Haar richten konnten. Belustigt bemerkte Gwyneira einen Spiegelschrank mit der obligatorischen Silberschale für Visitenkarten. Wer machte hier wohl so förmlich seine Aufwartung? Eigentlich musste man doch meinen, dass keine Gäste ohne Anmeldung kamen und erst recht keine Fremden. Und wenn sich tatsächlich ein Fremder hierher verirrte – warteten Lucas und sein Vater dann wirklich, bis das Hausmädchen ihn Witi gemeldet hatte, der dann die Herren des Hauses in Kenntnis setzte? Gwyneira dachte an die Farmerfamilien, die aus den Häusern gestürmt waren, nur um Fremde vorbeireiten zu sehen, und die offensichtliche Begeisterung der Beasleys über ihren Besuch. Da hatte kein Mensch nach ihrer Karte gefragt. Auch den Maoris dürfte der Austausch von Namenskärtchen unbekannt sein. Gwyneira fragte sich, wie Gerald ihn Witi erklärt hatte.
Von der Eingangshalle aus betrat man ein noch spärlich möbliertes Empfangszimmer – auch dies fraglos nach Sinn und Nutzen britischen Herrenhäusern nachempfunden. Gäste konnten hier in behaglicher Atmosphäre warten, bis der Hausherr Zeit für sie fand. Ein Kamin und ein Büfett mit darauf drapiertem Teegeschirr waren bereits vorhanden, passende Sessel und Sofas hatte Gerald im Gepäck. Es würde hübsch aussehen, aber wozu es dienen sollte, war Gwyneira schleierhaft.
Das Maori-Mädchen Kiri führte sie denn auch zügig hindurch in den Salon, dessen Einrichtung mit schweren, altenglischen Möbeln bereits abgeschlossen schien. Wäre die Halbtür zu einer großen Terrasse nicht gewesen, hätte er beinahe düster gewirkt. Auf jeden Fall war er nicht nach neuester Mode gestaltet; die Möbel und Teppiche gingen eher als Antiquitäten durch. Vielleicht die Aussteuer von Lucas’ Mutter? Wenn ja, musste ihre Familie vermögend gewesen
Weitere Kostenlose Bücher