Im Land Der Weissen Wolke
Nacht.
»Da wären wir«, sagte Howard und verhielt das Gespann vor einer Hütte. Wohlwollend hätte man sie auch ein Blockhaus nennen können; sie war roh aus Baumstämmen zusammengefügt. »Geh schon mal rein, ich sehe im Stall nach dem Rechten.«
Helen war wie erstarrt. Das sollte ihr Haus sein? Selbst die Ställe in Christchurch waren komfortabler, von London gar nicht zu reden.
»Na los, mach schon. Es ist nicht abgeschlossen. Hier gibt’s keine Diebe.«
In Howards Haus wäre auch kaum etwas zu stehlen gewesen. Als Helen, immer noch sprachlos, die Tür aufstieß, betrat sie einen Raum, gegen den selbst Margarets Küche geradezu wohnlich gewirkt hätte. Das Haus bestand im Ganzen aus nur zwei Zimmern – einer Kombination aus Küche und Wohnraum, der mit Tisch, vier Stühlen und einer Truhe spärlich möbliert war. Die Küche war etwas besser eingerichtet; anders als bei Margaret gab es einen richtigen Herd. Helen würde immerhin nicht über offenem Feuer kochen müssen.
Nervös öffnete sie die Tür zu dem angrenzenden Raum – wie erwartet Howards Schlafzimmer. Nein, ihr Schlafzimmer, verbesserte sie sich. Und sie würde es unbedingt wohnlicher einrichten müssen!
Bislang enthielt es nur ein grob gezimmertes Bett, schlampig gemacht und mit derber Bettwäsche. Helen dankte dem Himmel für ihre Einkäufe in London. Mit den neuen Bettbezügen würde das gleich besser aussehen. Sobald Howard ihre Tasche hereinbrachte, würde sie die Laken wechseln.
Howard trat ein, einen Korb Feuerholz unter dem Arm. Auf den Scheiten balancierte er ein paar Eier.
»Faules Pack, diese Maori-Bälger!«, schimpfte er. »Bis gestern haben sie die Kuh wohl gemolken, aber heute nicht. Steht mit prallem Euter da, das arme Vieh, und brüllt sich die Seele aus dem Leib. Kannst du sie mal eben melken? Das wird von jetzt an sowieso deine Aufgabe sein, also mach dich ruhig gleich damit vertraut.«
Helen sah ihn verwirrt an. »Ich soll ... melken? Jetzt?«
»Na, bis übermorgen früh ist das Vieh verreckt«, meinte Howard. »Aber trockenes Zeug kannst du dir vorher noch anziehen, ich bring deine Sachen gleich rein. So holst du dir ja den Tod in der kalten Stube. Hier ist schon mal Feuerholz.«
Letzteres klang wie eine Aufforderung. Doch Helen machte jetzt erst einmal das Problem mit der Kuh zu schaffen.
»Howard, ich kann nicht melken«, gestand sie. »Das habe ich noch nie gemacht.«
Howard runzelte die Stirn.
»Was soll das heißen, du hast noch nie gemolken?«, fragte er. »Gibt’s in England keine Kühe? Du hast mir geschrieben, du hättest jahrelang dem Haushalt deines Vaters vorgestanden!«
»Aber wir haben in Liverpool gewohnt! Mitten in der Stadt, bei der Kirche. Wir hatten kein Vieh!«
Howard sah sie böse an. »Dann sieh zu, dass du es lernst! Heute mache ich es noch. Wisch du inzwischen den Boden. Der Wind weht den ganzen Staub rein. Und dann kümmere dich um den Herd. Holz hab ich ja schon reingebracht, du musst ihn nur noch anfeuern. Pass auf, dass du das Holz sorgfältig schichtest, sonst qualmt es uns die ganze Hütte voll. Aber das wirst du ja wohl können. Oder hat man keine Herde in Liverpool?«
Howards geringschätziger Ausdruck ließ Helen auf weitere Einwände verzichten. Es würde ihn nur noch mehr verstimmen, wenn sie ihm erzählte, dass sie in Liverpool ein Mädchen für die schweren Hausarbeiten gehabt hatten. Helens Aufgaben hatte sich auf die Erziehung der jüngeren Geschwister, die Hilfe im Pfarramt und die Leitung des Bibelkreises beschränkt. Und was würde er gar zu ihrer Schilderung des Londoner Herrenhauses sagen? Die Greenwoods hielten sich eine Köchin, einen Knecht, der die Öfen anfeuerte, Mägde, die der Herrschaft jeden Wunsch von den Augen ablasen. Und Helen als Gouvernante, die zwar nicht zur Herrschaft gehörte, der man jedoch nie zugemutet hätte, selbst ein Stück Feuerholz anzurühren.
Helen wusste nicht, wie sie das alles schaffen sollte. Doch ein Ausweg fiel ihr auch nicht ein.
Gerald Warden zeigte sich hocherfreut, dass Gwyneira und Lucas eine so rasche Einigung erzielt hatten. Er setzte den Hochzeitstermin auf das zweite Adventswochenende fest. Dann war Hochsommer, und der Empfang konnte zum Teil im Garten stattfinden. Der musste dazu allerdings noch hergerichtet werden. Hoturapa und zwei weitere Maoris, die extra dafür eingestellt worden waren, arbeiteten hart, um die von Gerald aus England mitgebrachten Sämereien und Setzlinge einzubringen. Auch ein paar einheimische
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