Im Land Der Weissen Wolke
Gewächse fanden Eingang in die sorgsam von Lucas beaufsichtigte Gartengestaltung. Da es einfach zu lange dauerte, bis Ahorn-oder Kastanienbäume die nötige Größe erreicht hatten, musste man zwangsläufig auf Südbuchen, Nicau-Palmen und Cabbage-Trees zurückgreifen, wenn Geralds Gäste in absehbarer Zeit im Schatten lustwandeln wollten. Gwyneira machte das nichts aus. Sie fand die einheimische Flora und Fauna interessant – endlich ein Gebiet, auf dem sich ihre Vorlieben und die ihres künftigen Gatten deckten. Allerdings beschränkten Lucas’ Forschungen sich hauptsächlich auf Farne und Insekten, wobei Erstere vor allem in den regenreicheren Westregionen der Südinsel zu finden waren. Gwyneira konnte ihre Vielfalt und ihre filigranen Formen lediglich auf Lucas’ eigenen, recht gelungenen Zeichnungen oder in seinen Lehrbüchern bewundern. Doch als sie einem Exemplar einer der heimischen Insektenarten erstmals leibhaftig begegnete, wäre selbst der hartgesottenen Gwyneira beinahe ein Schrei entfahren. Lucas, ganz aufmerksamer Gentleman, eilte sofort besorgt an ihre Seite. Der Anblick schien ihn allerdings eher zu freuen als mit Ekel zu erfüllen.
»Es ist ein Weta!«, begeisterte er sich und stieß das sechsbeinige Tier, das Hoturapa eben im Garten ausgegraben hatte, mit einem Stöckchen an. »Sie sind die vielleicht größten Insekten der Welt. Acht Zentimeter Länge und mehr sind nicht ungewöhnlich.«
Gwyneira konnte den Jubel ihres Verlobten nicht teilen. Wenn das Tier wenigstens noch wie ein Schmetterling oder wie eine Biene oder Hornisse ausgesehen hätte ... Aber das Weta ähnelte am ehesten einer fetten, feucht glänzenden Heuschrecke.
»Sie gehören zu den Schreckenarten!«, dozierte Lucas. »Genauer gesagt, zur Familie der Langfühlerschrecken. Außer den Höhlen-Weta, die werden den Rhaphidophoridae zugeordnet ...«
Lucas kannte die lateinischen Bezeichnungen für sämtliche Weta-Untergruppen. Gwyneira fand den Maori-Namen für die Tiere allerdings erheblich treffender. Kiri und ihre Leute nannten sie wetapunga , »Gott der hässlichen Dinge«.
»Stechen sie?«, fragte Gwyneira. Das Tier schien nicht sonderlich lebendig zu sein, sondern bewegte sich nur träge vorwärts, als Lucas es anstieß. Doch es verfügte über einen imponierenden Stachel am Unterleib. Gwyneira hielt gebührend Abstand.
»Nein, nein, üblicherweise sind sie harmlos. Sie beißen höchstens mal. Das ist dann ungefähr so wie ein Wespenstich«, erklärte Lucas. »Der Stachel ist ... soll ... nun, er bedeutet, dass dies hier ein Weibchen ist, und ...« Lucas wand sich, wie immer, wenn es um etwas »Geschlechtliches« ging.
»Ist zum Eierlegen, Miss Gwyn«, klärte Hoturapa sie beiläufig auf. »Die hier dick und fett, bald legen Eier. Viel Eier, hundert, zweihundert ... Besser nicht mitnehmen in Haus, Mr. Lucas. Nicht, dass legen Eier in Haus ...«
»Um Himmels willen!« Allein der Gedanke, das Wohnhaus demnächst mit zweihundert Nachkommen dieses wenig sympathischen Tieres zu teilen, jagte Gwyn Schauer über den Rücken. »Lass sie bloß hier. Wenn sie wegläuft ...«
»Nicht schnell laufen, Miss Gwyn. Springen. Wupps, und Sie haben wetapunga auf Schoß!«, erklärte Hoturapa.
Gwyneira ging vorsichtshalber noch einen Schritt zurück.
»Dann zeichne ich sie eben hier, an Ort und Stelle«, gab Lucas mit leichtem Bedauern nach. »Ich hätte sie gern mit in mein Arbeitszimmer genommen und direkt mit den Abbildungen im Bestimmungsbuch verglichen. Aber so muss eben meine Zeichnung reichen. Sie möchten doch sicher auch gern wissen, Gwyneira, ob es sich um eine Boden-Weta oder eine Baum-Weta handelt ...«
Gwyneira war selten etwas so egal gewesen.
»Warum interessiert er sich nicht für Schafe, wie sein Vater?«, fragte sie gleich darauf ihr geduldiges Publikum, bestehend aus Cleo und Igraine. Gwyneira hatte sich in den Stall verzogen, während Lucas die Weta zeichnete, und striegelte eben ihre Stute. Am Morgen hatte das Pferd beim Reiten geschwitzt, und das Mädchen ließ es sich nicht nehmen, ihr das inzwischen getrocknete Fell selbst zu glätten. »Oder für Vögel! Aber die halten wahrscheinlich nicht lange genug still, um sich zeichnen zu lassen.«
Die einheimische Vogelwelt fand Gwyneira deutlich interessanter als Lucas’ krabbelnde Lieblinge. Die Farmarbeiter hatten ihr inzwischen einige Arten gezeigt und erklärt. Die meisten dieser Leute kannten sich in ihrer neuen Heimat recht gut aus; die häufigen
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