Im Land des Falkengottes. Echnaton
verneigten sie sich tief vor ihrem Herrscher und obersten Sehenden und verließen, demütig gebückt, den Raum. Schnell wandten wir uns nach Süden, der Wand zu, welche gegenüber dem Schrein lag.
«Gegenüber dem Schrein. Am Morgen nach dem nächsten Vollmond müsst Ihr dort sein», wiederholte ich leise und für mich die Worte des Königssohnes von Kusch.
«Vor Sonnenaufgang müsst Ihr dort sein», ergänzte Amenophis die Anweisung unseres Freundes Merimes. In verschiedenen Registern sahen wir Darstellungen Amuns in all seinen Erscheinungsformen. In der Mitte aber war ein langes Gebet niedergeschrieben. Wie es früher der Brauch war, prangten dort die einzelnen Schriftzeichen in grellen Farben: Das Schilfblatt in einem satten Grün, die Viper in grellem Gelb und die Sonnenscheibe, das Schriftzeichen für Re, in hellem, kräftigem Rot. Cheper, der heilige Käfer, in tiefem Blau. Ich las laut:
«Gruß an Dich, schöner Re jeden Tages, der am Morgen aufgeht ohne Unterlass. Chepri, der sich ermüdet beim Arbeiten. Obwohl Deine Strahlen auf dem Gesicht sind, erkennt man sie nicht. Das Elektron ist nicht vergleichbar mit Deinem Glanz.Du bist ein Ptah, Du gießt Deinen Leib aus Gold, Gebärender, der nicht geboren wird. Einziger seiner Art, der die Ewigkeit durchfährt, der auf den Wegen mit Millionen unter seiner Leitung wandelt. Gegrüßet seiest Du, Sonne des Tages, der die Menschen erschafft und ihren Lebensunterhalt hervorbringt. Großer Falke mit buntem Gefieder, Käfer, der sich selbst emporhebt, der von selbst entsteht, ohne dass er geboren wird. Ältester Horus, inmitten der Himmelsgöttin, für den Jubel angestimmt wird, bei seinem Erscheinen und bei seinem Untergehen gleichermaßen. Urgott der Beiden Länder, der sich selbst erschuf, der alles sieht, was er erschaffen hat, als er allein war, der an die Grenzen der Länder vordringt Tag für Tag im Anblick derer, die auf ihm wandern. Der im Himmel aufgeht, wenn er sich in Re verwandelt hat, und der die Jungen der Schlange am Leben erhält.»
Wir schwiegen lange, denn jeder von uns las das Geschriebene mehrmals still für sich.
«Er hat bestimmt nur im Wahn gesprochen», sagte schließlich eine sichtlich enttäuschte Nofretete.
Amenophis schüttelte schweigend den Kopf und las das Gebet nochmals laut.
«Vor Sonnenaufgang müsst Ihr dort sein», flüsterte ich Amenophis zu.
«Er bekräftigte es nochmals, Nafteta. Er sagte: ‹Hört Ihr: Vor Sonnenaufgang.› Ich erinnere mich genau. Jetzt ist es fast Mittag.»
«Was würde das an dem ändern, was hier geschrieben steht», zweifelte auch Pharao am Sinn der Anweisung von Merimes.
«Ich kann es dir nicht sagen. Doch ich glaube nicht, dass Merimes im Wahn geredet hat.»
«Wann ist der nächste Vollmond?», fragte Amenophis in die kleine Runde, ohne seine Blicke von den Schriftzeichen vor ihm abzuwenden.
«In sechs oder sieben Tagen», antwortete ich unsicher.
«Dann werden wir eben in sechs oder sieben Tagen wieder hier sein, Eje. Vielleicht lüftet uns Merimes dann sein Geheimnis.»
Ich glaube, in den nächsten Tagen ging uns allen der Sinn der Anweisung nicht aus dem Kopf. Doch niemand von uns fand auch nur im Ansatz eine Lösung. So blieb uns nur der Vollmond.
Die folgenden Tage verbrachten Pharao und die Große königliche Gemahlin damit, diejenigen zu empfangen und anzuhören, die man die Großen von Napata nannte. So traten der Bürgermeister, Priester, der Kommandeur der hier ansässigen Soldaten, die Ältesten der umliegenden Stämme und Schreiber vor den Thron des Guten Gottes, um ihre Bitten vorzutragen. Wichtiger aber war, dass sie ihren Angehörigen sagen konnten, sie hätten vor Pharao gestanden, dem Guten Gott, dem Herrn der Erde, ohne gestorben, ohne zu Staub zerfallen zu sein.
Ti konnte nicht der Versuchung widerstehen, das kleine Haus, welches einmal ihr und ihrem Maj gehört hatte, aufzusuchen. Ohne mich. Sie bat darum, nur in Begleitung Mutnedjemets und einiger Soldaten dorthin gehen zu dürfen, wo sie mit ihrem ersten Mann gelebt hatte, wo ihre erste Liebe zu Hause war. Ich konnte es verstehen.
«Und?», sagte ich nur, nachdem sie nach wenigen Stunden zurückgekehrt war.
«Es war fast noch alles so, wie ich es zurückgelassen hatte. Selbst einige unserer Möbelstücke standen noch dort.»
Sie schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie: «Er war nicht mehr da. Nicht einmal mehr in meiner Erinnerung. Maj ist nicht mehr da.»
Ich nahm sie in meine Arme und drückte sie fest an
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