Im Land des Falkengottes. Tutanchamun

willkommenen Anlass, stundenlange Übungen anzusetzen oder ihn zum Lernen zu ermahnen.
    «Ein Fehlschuss auf eine Ente oder auf einen Strauß bleibt ohne jede Folge, Majestät», belehrte Amenemhet, ein Offizier und der beste Bogenschütze meiner Streitwagentruppe, seinen Herrscher. «Ein schlechter Schuss auf einen Löwen oder auf einen Wildstier könnte Euren Tod bedeuten! Ein Sturz mit Eurem Wagen in der Schlacht ebenso.»
    Der Übungsplatz der Leibgarde hinter dem Palast hatte sich seit meiner Jugend kaum verändert. Nur die Bäume waren älter geworden. Wie ich.
    Es gab dort noch immer die Schießplätze für die Bogenschützen und die Speerwerfer, daneben die Pferdekoppeln und dahinter die Rennbahn, die sich in unzähligen Windungen durch Palmen und Sykomoren hindurchschlängelte, an Buschgruppen vorbeiführte und ebenso plötzlich von einem kleinen, künstlich angelegten Teich unterbrochen wurde. Wie viele Stunden mochte ich hier mit Ameni verbracht haben, wir beide nur wenig älter, als Nassib es jetzt war.
    «Eine unbewegliche Zielscheibe zu treffen ist keine Kunst, Majestät», hörte ich Amenemhet sagen. «Gebt einer Küchenmagd drei Wochen Zeit, und sie schafft das ebenso wie Ihr und ich. Bewegliche Ziele zu treffen, Majestät, das ist die hohe Kunst des Bogenschießens!»
    Ich war erstaunt, was sich Amenemhet für seinen Herrscher hatte einfallen lassen: Auf einem lang gezogenen, künstlichen Wall ließ er eine schräg nach links unten verlaufende Holzbahn anlegen, auf der die unterschiedlichsten Gegenstände nach unten rutschen oder rollen konnten. Einmal war es ein mit Stroh umflochtenes Wagenrad, das hinabsauste, ein andermal ein nur träge dahinrutschender Sandsack oder eine kleine, runde Holzscheibe, die wie ein gehetztes Kaninchen über die Holzplanken flog.
    Zu Beginn seiner Übungen machte Nassib den Fehler, den jeder Anfänger begeht: Er erfasste das Ziel, hielt kurz inne und ließ dann den Pfeil fliegen. Je nach Geschwindigkeit des Ziels kam der Pfeil sechs bis zwölf Ellen hinter dem Ziel auf.
    «Ihr müsst die rollende Scheibe im Zielen erst einholen, dann müsst Ihr sie sogar noch überholen und danach, noch in der weiterführenden Bewegung, den Pfeil loslassen. So wird das Ziel in den fliegenden Pfeil hineinlaufen.»
    Amenemhet und mir kam es so vor, als wäre Tutanchamun das Bogenschießen in die Wiege gelegt worden. Es dauerte nicht lange, und keines der Wagenräder, mochte es auch noch so schnell sein, kam ins Ziel, ohne dass es von einem Pfeil Nassibs durchbohrt worden wäre.
    «Die Schwierigkeit besteht darin», belehrte ihn der Offizier nach einigen Tagen weiter, «dass Ihr ganz unterschiedlich weit vorhalten müsst, bevor Ihr den Pfeil fliegen lasst, je nachdem, wie schnell Euer Ziel sich bewegt oder wie weit das Ziel von Euch entfernt ist.»
    Damit Pharao die Scheiben auf unterschiedliche Entfernungen beschießen konnte, ohne dabei selbst seinen Standort verändern zu müssen, ließ Amenemhet hintereinander versetzt zwei weitere Rollbahnen anlegen. Jetzt schoss Nassib in kurzer Folge auf Räder, die in vierzig, sechzig oder gar achtzig Ellen Entfernung den Hang hinabrollten. Aber damit war es noch lange nicht genug, denn jetzt wechselte Amenemhet die Ziele: Einmal kam in vierzig Ellen Entfernung ein Sandsack gerutscht, kurz darauf raste in achtzig Ellen Entfernung ein großes Wagenrad hinab und schließlich in sechzig Ellen Entfernung eine kleinere Holzscheibe. Wenige Tage später zogen sich drei weitere Holzbahnen in entgegengesetzter Richtung nach rechts unten durch den Hang.
    «Ihr seid Rechtshänder und habt jetzt tagelang nur auf Ziele geschossen, die von rechts kamen. Jetzt wechseln wir die Laufrichtung, und Ihr werdet sehen, dass Ihr mit Euren Schießkünsten von vorne beginnen müsst, ehe Ihr so gut trefft wie bisher.»
    Es ging schneller, als wir dachten. Nachdem Nassib auch diese Hürde genommen hatte, wurde er übermütig.
    «Wir versuchen etwas Neues, Amenemhet!», rief er seinem Lehrmeister zu, nachdem er die im Wechsel von links und von rechts kommenden Wagenräder ohne einen einzigen Fehlschuss getroffen hatte. «Du wirst jetzt je ein Wagenrad gleichzeitig von rechts und von links laufen lassen. Sehen wir doch einmal, ob ich nicht beide treffe!»
    «Habt ihr verstanden?», rief Amenemhet seinen Helfern laut nach hinten zu. Diese nickten nur. Dann hob der Offizier den Arm und blickte auf seinen Herrscher. Nassib nahm sich das Nemestuch vom Kopf und hielt es seinem