Im Land des Regengottes
Bertram, Trude und die anderen Mädchen, die ich noch aus der Schule kannte. Hier war ich ganz und gar allein. Und was noch viel schlimmer war: Auf der Kohlstraße hatte mich die Hoffnung aufrechterhalten, dass alles irgendwann einmal besser werden würde. Dass ich aufs Lehrerinnenseminar gehen und ein neues Leben beginnen würde.
Hier in Bethanien war ich dagegen am Ziel.
Hier gab es keine Hoffnung mehr.
»Es steht dir nicht zu, dich über Susanna zu erheben«, sagte Freudenreich. »Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.«
Das war der Tropfen, der das Fass für mich zum Überlaufen brachte. Nach allem, was geschehen war, predigte Freudenreich mir christliche Nächstenliebe. Wütend sprang ich auf. »Tun Sie bloß nicht so edel und barmherzig. Denken Sie doch einmal über sich selbst nach, wie unbarmherzig Sie Fräulein Hülshoff behandelt haben! Sie sollten sich schämen!«
Ich erschrak selbst über meine frechen Worte, aber Freudenreich erschrak nicht. Oder zumindest ließ er sich nichts anmerken. Stattdessen schien jede Falte in seinem Gesicht zu gefrieren. Ein paar Sekunden lang, die mir wie Minuten oder Stunden vorkamen, starrten wir uns nur an. Dann erhob er sich und verließ wortlos den Raum.
Mein respektloses Benehmen blieb natürlich nicht ohne Folgen. Bis auf Weiteres durfte ich mich nicht mehr mit meiner Mutter und Freudenreich an den Tisch setzen. Stattdessen musste ich meine Mahlzeiten stehend einnehmen, mit dem Gesicht zur Zimmerecke. Auch bei den Andachten und Gottesdiensten in der Kirche musste ich stehen bleiben, sodass die ganze Gemeinde meine Schande sah, und am Pfingstsonntag sollte ich nicht am Heiligen Abendmahl teilnehmen dürfen.
»Sofern du nicht aufrichtig bereust und mich um Vergebung bittest«, sagte Freudenreich.
Ich bereute aber nicht, im Gegenteil, Freudenreichs Härte und Unnachgiebigkeit machte auch mich härter und unnachgiebiger.
»Er muss sich bei mir entschuldigen und nicht umgekehrt«, teilte ich meiner Mutter mit, als sie eines Abends in meine Kammer kam und mich beschwor, doch endlich einzulenken.
»Er wird nicht nachgeben, das weißt du genau«, sagte sie leise.
»Dann bleibe ich eben stehen, bis ich tot umfalle.«
»Bitte, Jette. Ich flehe dich an.«
»Warum sollte ich das tun?«, fuhr ich meine Mutter an. »Findest du ihn nicht ebenso widerlich wie ich? Warum sagst du denn dann nichts, warum setzt du dich nicht zur Wehr? Warum lässt du dir einfach alles gefallen?«
Sie antwortete nicht. Sie hatte hohes Fieber und spuckte heimlich Blut, sie brauchte ihre ganze Kraft, um gegen ihre Tuberkulose anzukämpfen. Aber am Ende würde sie doch verlieren. Das alles wusste ich damals noch nicht, aber ich hätte es wissen können, wenn ich sie nur ein bisschen aufmerksamer beobachtet hätte.
Nach ihrem Besuch in meinem Zimmer sprachen meine Mutter und ich kaum noch miteinander. Mit Missionar Freudenreich wechselte ich kein Wort und von Susanna nahm ich ohnehin nur Aufträge entgegen. Hin und wieder schrieb ich einen verzweifelten Brief an Bertram, auf den ich keine Antwort bekam. Irgendwann würde ich meine Sprache ganz verlieren, aber keiner würde es bemerken, nicht einmal ich selbst.
Ich wässerte gerade die Salatköpfe in dem kleinen Garten hinter der Küche, als ich hörte, dass jemand hinter mich trat. Mit einem leisen Aufschrei fuhr ich herum.
»Petrus!«
Er legte einen Finger auf die Lippen. Ein hastiger Blick zum Küchenfenster. Susanna war nirgendwo zu sehen. »Hier ist Brief fur Fraulein.« Er reichte mir einen Umschlag. Dann war er genauso lautlos wieder verschwunden, wie er erschienen war.
Ich starrte auf das Kuvert. Der Absender war mir unbekannt.
Frau Richard Welter
Warmbad
Hauptstraße 2
Im Umschlag steckte eine Karte, auf der nur ein paar hastig hingeworfene Zeilen standen.
Warmbad, den 4. Mai 1900
Meine liebe Henrietta!
Wie geht es Ihnen? Ich bin dank der Unterstützung guter Menschen und mit Gottes Hilfe an den deutschen Siedler Herrn Welter aus Warmbad geraten, mit dem ich mich vor einigen Tagen vermählt habe. Bin erleichtert und recht zuversichtlich. Ich bitte Sie, dieses Schreiben nach dem Lesen zu vernichten, kein Wort an Herrn Freudenreich! Hoffentlich sind Sie bei guter Gesundheit. Erwarte Ihre baldige Antwort!
Mit den besten Grüßen!
Ihre Edeltraud Welter
(geborene Hülshoff)
Der Brief war von Fräulein Hülshoff! Sie
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