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Im Land des Regengottes

Im Land des Regengottes

Titel: Im Land des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gina Mayer
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und mich mit Freudenreich zurücklassen musste. Falls das der Fall war, warum hatte sie dann nicht mit mir über ihren Zustand gesprochen?
    Vielleicht hatte sie es selbst nicht wahrhaben wollen. Vielleicht hatte sie wider alle Vernunft gehofft, dass alles gut werden würde.
    Wenn ich heute an sie denke, tut sie mir leid. Ich stelle mir vor, wie sie ihren Husten zu unterdrücken versuchte und die Tücher mit ihrem blutigen Auswurf verschwinden ließ, um Freudenreich und mich damit nicht zu belasten. Doch dann verwandelt sich mein Mitleid in Wut. Warum hatte sie mir keine Chance gegeben, sie zu verstehen? Ich könnte laut schreien vor Zorn. Ich könnte sie schütteln. Aber auch dafür ist es nun zu spät.
    Sie ist tot. Ich erreiche sie nicht mehr.
     
    Am Morgen des zweiten Sonntags nach Trinitatis ging es meiner Mutter so schlecht, dass sie nicht in die Kirche konnte. »Geh wieder ins Bett und ruh dich aus«, sagte Freudenreich, als sie schwankend aus dem Schlafzimmer trat, mit fiebrigen roten Flecken auf den Wangen. »Du bleibst bei deiner Mutter«, befahl er mir daraufhin. »Wenn sie Hilfe benötigt, holst du Susanna.«
    Ich setzte mich also an Mutters Bett, erleichtert darüber, dass mir die Tortur des Gottesdienstes erspart blieb. An Pfingsten war es am schlimmsten gewesen, als sich die ganze Gemeinde zum Abendmahl um den Altartisch versammelt hatte und nur ich meinen Platz neben der Bank nicht verlassen durfte. Wie ein kleines Kind hatte ich dabei zusehen müssen, wie Freudenreich den Gemeindegliedern den Kelch und das Brot reichte. Nicht dass ich besonders wild darauf war, mit den ungewaschenen Hottentotten aus einem Weinkelch zu trinken. An Ostern war mir nach der Abendmahlfeier sogar ziemlich schlecht gewesen. Aber ausgeschlossen zu werden, gefiel mir noch weniger.
    Meine Mutter warf unruhig den Kopf hin und her.
    »Möchtest du etwas trinken?«, fragte ich sie.
    Ihre Augen flackerten wie Kerzenlichter, die in ihrem eigenen Wachs ertrinken. »Lass mich einfach nur ein wenig ausruhen, Jette.«
    Sie schloss die Augen. Mein Blick wanderte durch das Schlafzimmer. Auf dem kleinen Nachttisch neben dem Bett stand ein Hochzeitsfoto von Freudenreich und seiner ersten Frau. Die Frau hatte ein langes Pferdegesicht, sie trug ein schwarzes Kleid und einen weißen Schleier. Sie saß auf einem Stuhl und hielt sich an einer Bibel fest. Freudenreich stand daneben, einen Zylinder auf dem Kopf. Sein Gesicht hatte ein paar Falten weniger, aber ansonsten sah er genauso aus wie heute. Von der Hochzeit meiner Mutter mit Freudenreich gab es keine Aufnahme.
    Meine Mutter seufzte im Schlaf. Ich tupfte ihr den Schweiß von der Stirn und beschloss, in die Stube zu gehen, um an Bertram zu schreiben. Vor zwei Wochen hatte mir Petrus zum ersten Mal einen Brief von ihm gegeben, den er aus dem Postsack gefischt hatte, bevor Susanna ihn verschwinden lassen konnte. Ich habe schon befürchtet, dass Du mich ganz vergessen hast, hatte Bertram geschrieben. Aber nun bin ich froh und erleichtert, von Dir zu hören. Lass Dich von Deinem Missionar nicht zu sehr ärgern, ich komme schon bald und dann fängt ein neues Leben für uns an.
    Den Brief trug ich nun die ganze Zeit bei mir. Immer, wenn Susanna mich mit neuen Aufträgen quälte oder Freudenreich mich mit seinen Blicken durchbohrte, berührte ich das Blatt Papier mit meinen Fingerspitzen. Ich komme schon bald und dann fängt ein neues Leben für uns an. Was für eine wunderbare Verheißung. Im Sommer würde Bertram sein Studium in Aachen beginnen, wenn er sich beeilte, konnte er es in drei Jahren beenden, vielleicht sogar in zwei.
    Ich war schon an der Tür, als meine Mutter plötzlich wieder aufwachte. »Wohin gehst du, Jette?«, fragte sie angsterfüllt. »Du lässt mich doch nicht allein?«
    »Ich bin gleich nebenan in der Stube. Und ich lasse die Tür offen, wenn etwas ist, brauchst du nur zu rufen.«
     
    Wenn sich jemand dem Missionshaus näherte, dann hörte man die Schritte lange vorher auf den Steinen vor der Tür. Aber Freudenreich und Susanna kamen nicht durch den Vordereingang, sie gingen durch den Garten zum Haus. Vielleicht wollte Susanna noch ein paar späte Kürbisse fürs Mittagessen ernten. Vielleicht schlichen sie sich ganz bewusst an, um mich zu überraschen. Denn der Pfad zur Hintertür des Hauses war sandbedeckt.
    Jedenfalls bemerkte ich Freudenreich erst, als er bereits vor mir stand.
    »Was tust du hier? Warum bist du nicht bei deiner Mutter? Hab ich dir nicht aufgetragen,

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