Im Land des Regengottes
dich um sie zu kümmern?«
»Sie schläft. Ich wollte …«
Er hob blitzschnell die Hand. Einen Moment lang dachte ich, er wollte mich schlagen, und fuhr erschrocken zurück. Das genügte ihm, um sich den Brief zu schnappen.
»Das dürfen Sie nicht!«, rief ich empört, als er zu lesen begann.
Aber es war sein Haus und seine Missionsstation. Er durfte alles, was er wollte.
Ich hatte nicht mehr als ein paar Zeilen zu Papier gebracht, in denen ich Bertram versicherte, wie sehr ich ihn vermisste. Doch die wenigen Worte genügten Freudenreich, er knüllte den Brief zusammen und wog ihn in seiner Hand wie einen Stein, den er auf mich schleudern wollte. Dann ließ er ihn einfach fallen, drehte sich um und verschwand im Schlafzimmer. Als er nach ein paar Minuten wieder herauskam, würdigte er mich keines Blickes.
»Deine Mutter ist sehr krank«, erklärte er im Hinausgehen. »Geh hinüber in die Kirche und bete darum, dass Gott sie nicht für deine Sünden schlägt. Bitte ihn um Vergebung, solange noch Zeit ist. Du wirst heute nicht mit uns essen.«
Ich ging nicht in die Kirche. Stattdessen rannte ich über den Platz, an der Schule und am Friedhof vorbei, wo die Überreste von Freudenreichs erster Frau lagen und wo heute auch meine eigene Mutter liegt, ich rannte, bis ich die letzten Hütten von Bethanien weit hinter mir gelassen hatte. Ich rannte über die Rinderweide bis zu einem Felsblock, der wie eine geballte Faust in den Himmel ragte. Der Boden davor war von Kuh- und Ziegendung bedeckt, weil sich die Tiere in der Mittagszeit im Schatten des Felsens zusammendrängten. Aber heute stand kein Tier auf der Weide.
Ich kauerte mich zwischen zwei ausgetrocknete Kuhfladen, die Arme um meine Knie gelegt, den Kopf darauf gestützt. So blieb ich sitzen, bis Susanna mich abends fand und mir mitteilte, was geschehen war.
12
Martha Maria Freudenreich
verw. Hauck, geb. Fleischhauer
2.9.1862 – 13.6.1900
R.I.P.
Das stand auf dem schlichten Holzkreuz, das der Totengräber in den Sandboden am offenen Grab gerammt hatte.
Martha Maria Freudenreich. Wie fremd dieser Name klang. Als ob die Frau in dem schlichten Holzsarg nichts mit mir zu tun hätte.
Herr Freudenreich trat vor das Grab und hob die Arme. Die Ärmel seines schwarzen Talars knatterten in dem Wind. Susanna zog ein Taschentuch aus der Schürze und presste es vor Mund und Nase. Vielleicht kämpfte sie mit den Tränen. Vielleicht wollte sie sich auch nur gegen den Sand schützen, den uns der Wind ins Gesicht blies.
»Jesus Christus spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist«, rief Freudenreich, der die ganze Beerdigungszeremonie auf Deutsch gehalten hatte. Vermutlich tat er es aus Ehrerbietung meiner Mutter gegenüber, obwohl sie ja nun nichts mehr davon mitbekam. Oder es geschah mir zuliebe.
Hinter mir flüsterten zwei Eingeborenenfrauen. »Dem Herrn Freudenreich ist kein Glück mit seinen Frauen vergönnt«, wisperten sie. »Nun trägt er schon die zweite zu Grabe.«
Aber vielleicht sagten sie auch etwas ganz anderes. »Kein Wunder, dass die arme Frau gestorben ist. Ihre ungezogene Tochter hat ihr das Herz gebrochen. Der gute Herr Freudenreich hat alles versucht, um sie zu erziehen, aber sie hat ja den Teufel im Leib.« Unwillig drehte ich den Kopf nach hinten. Das Klicken verstummte sofort.
»Von der Erde bist du genommen, zu Erde wirst du wieder werden. Gehe hin und ruhe, bis du aufstehst zu deinem Erbteil am Ende des Tages«, rief Freudenreich.
Dann wurde der Sarg ins Grab hinabgelassen. Irgendjemand schob mich nach vorn, sodass ich plötzlich neben Freudenreich stand. Vor dem Loch, in dem der Sarg meiner Mutter lag. Auf dem Deckel hatte sich bereits eine dünne Sandschicht angesammelt.
Erde zur Erde. Asche zur Asche. Staub zu Staub.
Nacheinander zogen zuerst die Ältesten, dann die Angestellten und zum Schluss die übrigen Gemeindeglieder am Grab vorbei. Sie warfen eine Schaufel sandige Erde auf den Sarg und reichten Freudenreich und mir die Hand. Eine dicke Negerin, deren schwarzes Gesicht vor Tränen glänzte, strich mir mitfühlend übers Haar. Ich kannte nicht einmal ihren Namen. Ich wartete darauf, dass mir endlich bewusst wurde, was geschehen war. Dass die Trauer über den Tod meiner Mutter einsetzte, die Verzweiflung darüber, dass ich jetzt allein war. Aber nichts geschah.
Ich schüttelte die schwarzen Hände, blickte in die fassungslosen schwarzen
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