Im Land des Regengottes
Näharbeit ab. »Aber Herr Freudenreich hat ihr doch einen Ausweg angeboten, oder?« Auch sie nannte den Missionar weiterhin Herrn Freudenreich, wenigstens mir gegenüber. Ihn selbst sprach sie dagegen mit Immanuel an, aber nur, wenn eine Anrede unbedingt erforderlich war.
»Er will sie in einem Heim für Strafentlassene und ehemalige Freudenmädchen unterbringen!«, rief ich empört.
Meine Mutter öffnete den Mund, um zu antworten, aber dann verschluckte sie sich und begann zu husten. Ich dachte zuerst, dass sie absichtlich hustete, um nicht antworten zu müssen.
»Hast du dich erkältet?«, fragte ich, als sie sich nach einigen Minuten immer noch nicht beruhigt hatte.
Sie hob eine Hand und schüttelte den Kopf, während sie nicht aufhörte zu keuchen. Sie zog ein Taschentuch aus dem Rock, presste es vor den Mund und erstickte damit schließlich den Husten.
»Wir können doch nicht zulassen, dass Freudenreich Fräulein Hülshoff einfach so wegschickt«, kehrte ich zu meinem Thema zurück, als sie sich endlich wieder beruhigt hatte. »In einem fremden Land, ohne Familie, Freunde und Geld landet sie doch unweigerlich auf der Straße.«
» Herr Freudenreich«, korrigierte meine Mutter mich.
»Meinetwegen. Herr Freudenreich.«
»Wir können nichts tun. Alles, was geschehen ist, hat sie sich selbst zuzuschreiben.«
Ich stand auf, verließ den Raum und zog die Tür mit sehr viel Nachdruck ins Schloss. Als ich wegging, hörte ich, wie meine Mutter wieder zu husten begann.
Ich konnte mich nicht einmal mehr von Fräulein Hülshoff verabschieden. Als ich in den Hof kam, fuhr der Ochsenkarren gerade vom Platz. Ich rannte hinter ihm her, laut schreiend und rufend wie die Negerkinder, die uns in Swakopmund immer um Almosen angebettelt hatten. Aber der Karren wurde nicht langsamer und Fräulein Hülshoff, die neben Petrus auf dem Bock saß, drehte sich auch nicht nach mir um. Sie hielt ihren kleinen Sonnenschirm über sich aufgespannt und saß sehr aufrecht, den Blick nach vorn gerichtet.
Vielleicht hörte sie mich auch gar nicht über dem Geratter der Räder.
Bethanien, den 2. April 1900
Lieber Bertram,
so viele Wochen bin ich nun schon von Dir getrennt, so viele Briefe hab ich Dir bereits geschrieben, aber immer noch habe ich keine Antwort von Dir bekommen. Ob es Dir genauso geht? Ob Du Deine Briefe an mich auch in eine Leere hineinschreibst, ohne dass sie mich je erreichen? Vielleicht denkst Du ja am Ende, dass ich Dich über all dem Neuen ganz vergessen habe. Oh, wenn ich Dir doch nur versichern könnte, dass dem nicht so ist.
Hier ist so vieles geschehen, von dem ich Dir gerne berichten würde, aber ich bin so traurig über Dein Schweigen, dass ich es nicht schaffe, die Zeilen zu Papier zu bringen. Denn in mir wachsen die Zweifel.
Vielleicht erhältst Du meine Briefe ja doch. Aber anstatt sie zu lesen, wirfst Du sie ungeöffnet fort. Weil da jemand anderes ist, eine andere, die Dir nun so wichtig ist, wie ich es einmal war.
Es grüßt Dich sehr betrübt
Deine Freundin Henrietta
11
Nachdem Fräulein Hülshoff Bethanien verlassen hatte, floss ein Tag in den anderen wie im Herbst der Hochnebel über den Wupperauen.
Morgens nach dem Aufstehen hielt Freudenreich eine Andacht in der Anstaltskirche, an der alle Bewohner Bethaniens teilnahmen. Er betete und predigte auf Nama, meine Mutter und ich saßen stets ganz vorne und hingen unseren eigenen Gedanken nach, weil wir kein Wort verstanden. Glücklicherweise waren seine Gebete und seine Ansprachen immer sehr kurz, die Morgenandacht dauerte niemals länger als eine halbe Stunde. Während Freudenreich auf der Kanzel stand, glitten seine Raubtieraugen von links nach rechts über die vereinzelten Stühle, als läse er in einem großen Buch. Fehlte einer der Schwarzen, so suchte der Missionar ihn gleich nach der Andacht unweigerlich in seiner Hütte auf.
»Hottentotten sagen, dass krank, aber in Wahrheit sin’ nix krank. Sin’ besoffen vom Schnaps«, erklärte Susanna mir. »Aber der Herr Freudenreich weiß immer, ob is krank oder besoffen.«
Den Teufel Alkohol bekämpfte mein Stiefvater mit aller Leidenschaft. Schnaps wurde in Bethanien nicht geduldet, und wer sich nicht an das strikte Alkoholverbot hielt, der musste die Station verlassen.
»Nama nix kann trinken Schnaps«, unterstrich Susanna. »Trinken bisschen, trinken immer mehr, trinken ganz’ Fass leer.«
»Na, du musst es ja wissen«, sagte ich bissig. »Du gehörst doch
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