Im Land des Regengottes
ab, einer wachte, der andere ruhte.
»Das Essen wird nicht reichen«, meinte ich am dritten Tag beunruhigt.
»Wir werden jagen müssen«, entgegnete Petrus ruhig. Er hatte Pfeil und Bogen aus dem Dorf mitgebracht, aber Kudus und Springböcke würde er damit bestimmt nicht erlegen können.
Am nächsten Tag erreichten wir den Gipfel der Hügellandschaft und blickten hinunter in eine Schlucht, durch die sich ein ausgetrocknetes Flussbett zog. In der Mitte glänzte ein Bächlein wie ein dünner Speichelfaden.
»Das ist der Oranje«, erklärte Petrus. »Die Grenze zwischen Deutsch-Südwest und dem Kapland.«
»So weit sind wir schon?«, fragte ich begeistert. »Das ist ja wunderbar! Ich hätte nicht gedacht, dass die Kapregion so nahe ist.«
»Die Grenze ist nah«, korrigierte mich Petrus. »Aber Wupperthal ist sehr weit weg. Ich war noch nie im Kapland, ich kenne den Weg nicht genau.«
»Immer nach Süden«, sagte ich. »Wenn wir einen Kompass hätten, wäre es einfacher.«
»Wenn wir ein Gewehr hätten, wäre es noch besser«, murmelte Petrus. »Hinter dem Fluss gibt es viele Tiere.«
»Was für Tiere?«, fragte ich, aber ich erhielt keine Antwort. Er blickte aus schmalen Augen in die schattigen Berghänge auf der anderen Seite der Schlucht, als könnte er dort Löwen, Geparden und Hyänen ausmachen. Vielleicht sah er auch wirklich etwas. Ich selbst konnte nichts erkennen, außer den Geiern, die über den Hügelkuppen im Sonnenuntergang schwebten, als wären sie an unsichtbaren Fäden aufgehängt.
In einer Mulde im Gelände entzündete Petrus ein kleines Feuer. Während wir aßen, musste ich an meine Mutter denken, wie sie auf der Fahrt nach Bethanien Lindenblütentee gekocht hatte. Damals war ich wütend auf sie gewesen, weil sie so unfreundlich zu Fräulein Hülshoff gewesen war. Überhaupt hatte ich mich in den letzten Wochen ihres Lebens ständig über sie geärgert. Warum war ich nur so hart und ungeduldig mit ihr gewesen? Wir hatten so viel kostbare Zeit verschwendet, in der wir nicht miteinander geredet hatten. Nun hätte ich sie so gerne so viele Dinge gefragt, über meinen Vater, über sie selbst und ihre Gefühle für Freudenreich. Aber jetzt lag sie auf dem Friedhof in Bethanien.
Petrus packte seine Pfeife aus und begann, sie zu stopfen. Er übernahm die erste Wache. Als er mich weckte, hatte ich das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein.
»Es ist fast Morgen«, flüsterte er jedoch. »Ich muss ein bisschen schlafen, du passt auf.«
Du passt auf, sagte er und schlief vertrauensvoll ein, während ich meine Decke um die Schultern zog und gegen Müdigkeit und Kälte zugleich ankämpfte. Die Müdigkeit drückte mir die Augen zu, die Kälte riss sie wieder auf. Ich nahm einen Stock und stocherte damit im Feuer herum. Funken stoben hoch, flogen in den schwarzen Himmel und verwandelten sich dort in kalt glitzernde Sterne, die spöttisch auf mich herunterblickten.
Wie riesig die Nacht war.
In der Dunkelheit, die mich umgab, hörte ich ein Rascheln. Eine Ratte, eine Schlange, ein wildes Tier, das mich beobachtete und nur darauf wartete, dass mir die Augen zufielen? Was immer es war, es versteckte sich hinter der Wand aus Finsternis, während ich im Hellen saß. Am liebsten hätte ich das Feuer gelöscht. Am liebsten hätte ich auch alle Sterne am Himmel ausgemacht, damit sie mich nicht länger anstarrten.
Ob die Geier immer noch dort oben am Himmel schwebten? Ich legte den Kopf in den Nacken und suchte das Sternenzelt nach ihren schwarzen Umrissen ab. Nach einer Weile drehte sich alles: Ich selbst flog nun am Himmel und blickte hinab in ein unendliches Loch, in dem die Sterne tanzten. Die Tiefe sog mich an, ich begann zu sinken, zu stürzen und fiel in die schwarze Leere, an Sternenstrudeln und Milchstraßennebel, an Kometen und Fixsternen und Sonnen und Monden vorbei. Aus der menschlichen Zeit stürzte ich in Gottes unfassbare Ewigkeit. Und neben mir flog Petrus und hielt meine Hand. Nun begreifst du ja wohl, warum ich nicht nach Bethanien zurückgegangen bin, hörte ich ihn sagen.
Auf einem der silbernen Halbmonde, an dem wir vorbeifielen, saß Pastor Cordes und rauchte Pfeife. »Er ist ein Wesen der Natur!«, schrie er mir nach. »Ein Tier, das nur von seinen Instinkten getrieben wird!«
»Ja«, flüsterte Petrus’ Stimme in meinem Ohr, »das bin ich. Genau wie du auch.« Dann ließ er mich los und ich wurde zurückgezogen, aus der Tiefe des Sternenhimmels raste ich hoch auf die Erde, bis
Weitere Kostenlose Bücher