Im Land des weiten Himmels
mitteilen, aber durch Ihre Kündigung wird natürlich die volle Restsumme des Kredits fällig, und mit den erhöhten Zinsen, die uns seit letzter Woche auf dem Tisch liegen, vergrößert sich der Betrag leider noch einmal. Zusammen mit der Bearbeitungsgebühr, die wir Ihnen wegen der Nichteinhaltung der Kündigungsfrist berechnen müssen, ergibt sich leider nur ein Betrag von vier Dollar und sechzig Cent.«
»Aber das ist. Das ist …« Ihr fehlten die Worte.
»Tut mir leid, Miss Stocker, aber so ist es nun einmal. Wir halten uns lediglich an die bestehenden Verträge und sind beim Kreditvertrag an den erhöhten Zinssatz der Bank gebunden. Glauben Sie mir, uns macht der genauso zu schaffen.«
Sie hörte gar nicht hin. »Vier Dollar sechzig. Das ist … Das ist Wucher! Und ich dachte, Sie wären ein anständiges Unternehmen. So hoch können die Zinsen doch nicht sein.«
»Ich verstehe Ihren Unmut, Miss Stocker.« Man sah dem Schichtleiter an, wie unangenehm ihm die Unterhaltung war. »Aber mir sind die Hände gebunden. Ich bin verpflichtet, mich an die Anweisungen der Firmenleitung zu halten.«
Hannah ließ sich die vier Dollar sechzig auszahlen und verließ, ohne sich zu verabschieden, den Raum. Sie blickte weder nach links noch nach rechts, als sie ins Parterre hinabstieg und auf die Straße trat. Zusammen mit den sechzehn Dollar und zwei Cent betrug ihre Barschaft also zwanzig Dollar und zweiundsechzig Cent. Mit diesem Betrag musste sie die wochenlange Reise nach Alaska bestreiten.
Immer noch benommen von den schlechten Nachrichten verbrachte sie den Rest des Morgens damit, ihre wenige Habe in den Koffer zu packen, den sie schon auf der Überfahrt von Europa benutzt hatte, ihre beiden Kleider, die Unterwäsche, den Pullover, den ihre Mutter gestrickt hatte, die Winterstiefel, das gerahmte Hochzeitsfoto ihrer Eltern, ein paar Kleinigkeiten, auf die sie auch in Alaska nicht verzichten wollte. Zwischen die Kleider schob sie die neueste Ausgabe der Ranch Romances , eines Magazins, dessen Geschichten im Wilden Westen oder hohen Norden spielten und entscheidend dazu beigetragen hatten, dass sie sich so für die Wildnis begeisterte. Die Ranch Romances waren ihr einziges Laster. Keine anspruchsvolle Literatur, aber unterhaltsam und spannend, genau das Richtige nach einem anstrengenden Arbeitstag. Alles andere, vor allem ihr Geschirr, die Küchengeräte und das Besteck, die Bettwäsche und die Konserven und Tüten aus dem Vorratsschrank, verstaute sie in einem großen Karton, den sie Clara überlassen würde.
Nach dem Mittagessen, das aus einem Stück Käse und etwas Brot bestand, räumte sie das Zimmer auf und putzte es gründlich. Wenn sie sich schon klammheimlich aus dem Staub machte, durfte sie Mr Behringer keinen weiteren Grund zur Klage geben. Sie polierte sogar die Fenster, die bei ihrem Einzug von einem dicken Schmutzfilm bedeckt gewesen waren. An den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses tauchten Neugierige auf, erstaunt darüber, dass sich jemand so große Mühe mit seiner Wohnung gab. Ihr Abschied von der Freundin fiel schweigsam aus. Nachdem sie die Kiste in Carlas Wohnung gebracht hatten, saßen sie auf dem Dach und starrten zum Abendhimmel empor, schienen sich erst jetzt im Klaren darüber zu sein, dass sie sich vielleicht niemals wiedersehen würden. Clara schenkte Hannah einen Roman von Jack London: A Daughter of the Snows . »Damit du mal was anderes als diese kitschigen Ranch Romances liest « , sagte sie mit Tränen in den Augen. Sie klammerten sich aneinander, als drohte eine von ihnen vom Dach zu fallen, und Hannah versprach zu schreiben, sobald sie bei ihrem Onkel in Alaska war. »Und du schickst mir gefälligst eine Einladung zu deiner Hochzeit«, sagte Hannah. Sie schniefte leise und blickte ihre Freundin durch die Tränenschleier an. »Mrs John Meredith Walker«, sagte sie, jedes Wort betonend, »das klingt doch nicht übel.«
Hannah schlief kaum in dieser Nacht, war viel zu nervös, um die Augen zu schließen. Plötzlich erschien ihr Alaska nicht mehr wie das Paradies, sondern als unwirtliche Wildnis, die mit tausend Gefahren auf sie wartete. Hatte sie auch die richtige Entscheidung getroffen? Würde sie mit dem wenigen Geld auskommen? Würde ihr Onkel sie ohne ihre Mutter willkommen heißen? Würde sie in der Lage sein, sich um ihn zu kümmern? Sie hatte einmal einige Monate in einem Krankenhaus gearbeitet und dort den Schwestern geholfen, aber reichte ihr Wissen aus, um einen todkranken
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