Im Land des weiten Himmels
Mann zu pflegen? War es nicht viel zu riskant, ihre vertraute Umgebung und ihren Posten in einer Nähfabrik zu verlassen, um sich auf ein Abenteuer einzulassen, das sie in eine vollkommen andere Welt führen würde? Mit ein paar Dollar, die bis zu ihrer Ankunft in Alaska längst aufgebracht sein würden?
Quälende Gedanken, die schon am nächsten Morgen einer angespannten Aufgeregtheit wichen, die sie wieder zuversichtlich in die Zukunft sehen ließen. Ein Blick aus dem Fenster genügte. Die Mietskaserne gegenüber, die tiefen Häuserschluchten, der Verkehrslärm, der selbst im vierten Stock zu hören war. New York bestand nicht nur aus dem Central Park und den vornehmen Häusern und Läden in der Fifth Avenue. Die Stadt war ein Chaos und nur zu ertragen, wenn man viel Geld hatte und sich ein Wochenendhaus in den Catskills oder Adirondacks oder auf Long Island leisten konnte. Carla passte zu diesen vornehmen Leuten, würde sich aber auch als Gattin eines wohlhabenden Verlegers immer ihren eigenen Kopf bewahren, da war Hannah ganz sicher.
An dem Brief, den sie ihrem Vermieter hinterlassen würde, feilte sie den ganzen Morgen. Nach mehreren Versuchen schrieb sie endlich: »Mr Behringer, ich kündige hiermit unseren Mietvertrag und überweise Ihnen die verbleibenden Schulden spätestens in vierzehn Monaten, wie es vereinbart war. Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass dieser Betrag in keinster Weise gerechtfertigt ist und kaum eine Leistung dafür erbracht wurde. Hochachtungsvoll, Hannah Stocker.«
Sie legte den Brief auf die Matratze und beschwerte ihn mit dem Becher, aus dem sie ihren Morgenkaffee getrunken hatte. Mr Behringer würde nichts unternehmen. Bis er das Schreiben fand, war sie längst über alle Berge, und er würde sie weder schlagen noch auf andere gewaltsame Weise zur Begleichung ihrer Schulden zwingen können. Und zur Polizei konnte er nicht gehen. In dem Vertrag, den sie geschlossen hatten, war auch die Laufzeit von jetzt noch vierzehn Monaten vermerkt. Sie hatte den Vertrag nicht gebrochen.
Gegen Mittag zog sie sich um, ihre frisch gebügelte Sonntagskleidung, die sie sonst nur in die Kirche und zu besonderen Anlässen trug. Das dunkelgrüne, etwas altmodische Kleid, das mehr als zwei Handbreit unter den Knien endete, der ebenfalls grüne Mantel mit den schmalen Aufschlägen, die halbhohen Schuhe. Ihre schulterlangen Haare, die sie im Nacken zu einem Knoten gebunden hatte, versteckte sie unter einem schmalkrempigen Hut. Sie hatte sich nicht dazu durchringen können, ihre Haare kurz schneiden zu lassen, wie es immer mehr junge Frauen taten, vor allem in den besseren Vierteln, und hatte sich auch keinen dieser glockenförmige Hüte zugelegt, die gerade so in Mode waren. Sie hätte gar nicht das Geld für einen so teuren Hut besessen.
Ohne einen längeren Blick zurückzuwerfen, verließ sie ihr aufgeräumtes Zimmer. Ihr Koffer war nicht schwer. Im dritten Stock zog sie die Blicke einiger Halbwüchsiger auf sich, weil sie vornehmer als sonst gekleidet war, und weiter unten begegnete ihr eine Frau mit einem weinenden kleinen Jungen, dessen Kleidung vollkommen verdreckt war. »Meinst du vielleicht, ich hab nichts anderes zu tun, als ständig deine Sachen zu waschen?«, schimpfte die Frau.
Auf der Treppe vor dem Haus saß der alte Mann, der dort immer saß und an seiner Pfeife nuckelte und sich nicht um das zu kümmern schien, was um ihn herum vor sich ging. Als er den Koffer in ihrer Hand bemerkte, musterte er sie jedoch neugierig und hätte vielleicht sogar etwas gesagt, wäre nicht im gleichen Augenblick ein vornehm gekleideter Mann aus einem Automobil gestiegen und hätte ihr den Weg versperrt. »Was tun Sie denn hier, Miss?«
Hannah erschrak so sehr, dass sie beinahe den Koffer fallen ließ. »Mr … Mr Behringer!«, stammelte sie. »Ich … hatte Sie gar nicht erwartet!«
»Das sehe ich.« Er deutete auf den Koffer. »Wollen Sie verreisen?«
Sie suchte verzweifelt nach einer Ausrede. »Ich … bin auf dem Weg zu meinem Onkel. Er ist sehr krank, und es gibt niemanden außer mir, der … sich um ihn kümmern kann. Seine Frau kommt erst in zwei Tagen wieder.«
»Ihr Onkel wohnt in New York?«
»Erst seit kurzem«, log sie. »Ich … muss jetzt weiter.«
Mr Behringer machte keine Anstalten, sie aufzuhalten. »Aber glauben Sie bloß nicht, dass Sie wegen der zwei Tage, die Sie nicht zu Hause sind, weniger Miete zahlen müssen. Der Betrag ändert sich nicht, verstanden?«
»Natürlich, Mr
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