Im Land des weiten Himmels
Behringer. Leben Sie wohl.«
Sie konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen, wurde aber sofort wieder ernst, als sie sich kurz umdrehte und beobachtete, wie ihr Vermieter den alten Mann mit der Pfeife von der Treppe verjagte und lachend im Haus verschwand. Ängstlich beschleunigte sie ihre Schritte. Sie rannte zum Lebensmittelgeschäft an der Ecke, sah sich in der Tür noch einmal um, trat dann ein und kaufte Äpfel und Brot für die Reise, dann eilte sie weiter zur Hochbahn, erklomm die steile Treppe zum Bahnsteig und atmete erleichtert auf, als wenige Minuten später der Zug einfuhr und sie einsteigen konnte. Während der kurzen Fahrt zur Grand Central Station umklammerte sie die Geldbörse in ihrer Tasche, aus Angst, sie könnte auch noch das wenige Geld, das sie besaß, verlieren.
Immer noch beunruhigt bahnte sie sich einen Weg durch die dichte Menschenmenge in dem riesigen Bahnhof. Ein künstlicher Sternenhimmel wölbte sich über der Eingangshalle. Die Schritte der Menschen hallten als dumpfes Echo von den Wänden wider und verloren sich in den Gängen, die zu den Bahnsteigen führten.
Hannah war selten aus den Einwanderervierteln herausgekommen und zum ersten Mal in der Grand Central Station. Erst nach einigem Suchen fand sie den Ticketschalter für den 20 th Century Express. Ein farbenfrohes Plakat kündigte ihn als »berühmtesten Zug der Welt« und »Zug der Zukunft« an und lobte den exklusiven Service während der Fahrt über die so genannte »Water Route«, die so eben und gerade war, dass man nicht im Schlaf gestört wurde. Sie zögerte ein wenig, bevor sie an den Schalter trat und sagte: »Ich habe schon ein Ticket, Mister … Brauche ich eine Reservierung?«
Der Angestellte betrachtete sie prüfend und schien sich zu fragen, wie sich eine junge Frau, die nicht gerade nach der neusten Mode gekleidet war, eine Fahrt in diesem exklusiven Zug leisten konnte. Oder bildete sie sich das ein? Er lächelte höflich. »Sie haben das Ticket an der Westküste gekauft, Miss?«
»Ja, Sir … Das heißt, mein Onkel hat es mir geschickt.«
»So einen großzügigen Onkel hätte ich auch gern.« Er schrieb eine Reservierung aus und erklärte ihr, dass der Schaffner sie zu ihrem Platz führen und ihr alles erklären werde. »Service ist unser oberstes Gebot, Miss. Sie wissen, dass Sie für die Speisen an Bord extra bezahlen müssen?« Und als sie nickte: »Bitte dort entlang.« Er deutete auf die breite Rampe, die zu den Bahnsteigen führte.
Hannah verstaute das Ticket und nahm ihren Koffer auf. Schon nach wenigen Schritten hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden, und blieb nervös stehen. Ein älterer Herr konnte ihr gerade noch ausweichen und brummte etwas Unverständliches in sich hinein, ein Geschäftsreisender in einem teuren Maßanzug hatte es eilig und schimpfte: »Lassen Sie mich durch!«
Sie glaubte einen rothaarigen Mann mit einer großen Narbe quer über der Wange und einer Zigarette im Mundwinkel, der lässig an einer Säule lehnte, in ihre Richtung blicken zu sehen. Doch als sie ein zweites Mal hinschaute, war er verschwunden. Jetzt siehst du schon Gespenster, sagte sie sich, reiß dich zusammen, in ein paar Minuten bist du über alle Berge, und niemand kann dir mehr etwas anhaben.
Von neuem Mut beseelt eilte sie weiter. Sie wimmelte einen Gepäckträger ab, der ihren Koffer tragen wollte, und lief die Rampe zum Bahnsteig hinunter. Das Erste, was ihr an dem wartenden Expresszug auffiel, war seine Sauberkeit. Gegen die Hochbahn, mit der sie gekommen war, wirkte er, als wäre er gerade erst aus der Fabrik gerollt. Alles blitzte und blinkte, das Metall der Wagen, die chromverkleideten Teile, die Haltestangen. In den Fenstern spiegelten sich die hellen Lampen in der überdachten Bahnstation. Von der Spitze des Zuges war das rhythmische Hämmern eines Mechanikers zu hören.
Einer der Schaffner, ein freundlicher Schwarzer, ließ sich ihr Ticket zeigen, nahm ihren Koffer und führte sie an ihren Platz. Der Teppichboden dämpfte ihre Schritte wie in der Lobby eines vornehmen Hotels. Entsprechend komfortabel waren die gepolsterten Sitze mit den praktischen Kopfstützen. Der Schaffner versprach ihr, die Sitze in ein bequemes Bett zu verwandeln, sobald sie sich hinlegen wollte. Das ausklappbare Bett über ihr würde ungenutzt bleiben, ein Vorhang würde sie gegen neugierige Blicke schützen. Er verstaute ihren Koffer, erwähnte den Lounge Car, in dem man sich unterhalten und auch einen Imbiss
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