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Im Land des weiten Himmels

Im Land des weiten Himmels

Titel: Im Land des weiten Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Wolfe
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gefallen habe, »nicht in Worte zu fassen«, und die Krankenschwester erwiderte: »Sie können sich glücklich schätzen, aus der Perspektive und bei so schönem Wetter bekommen nur wenige den Mount McKinley zu sehen.« Kein Wort über den Piloten, weder von Schwester Becky, die wohl spürte, dass irgendetwas vorgefallen sein musste und Hannah nicht darüber sprechen wollte, noch von Hannah, die ihn am liebsten aus ihrem Gedächtnis gestrichen hätte.
    Vor dem Bahnhof von Fairbanks verabschiedete sich Hannah von der Krankenschwester.
    »Warum kommen Sie morgen nicht mal bei uns vorbei? Vielleicht steht ja sogar eine Fahrt zum Dorf am Gold River auf dem Programm, dann könnten Sie bei uns mitfahren. Um neun?«, fragte Becky.
    »Gern«, antwortete Hannah, »vielen Dank.«
    Sie übernachtete im Palace Hotel, einem zweistöckigen Blockhaus an der Ecke Cushman Street und Fourth Avenue, das Becky empfohlen hatte, obwohl es an den Rotlichtbezirk grenzte. »Das Palace ist das einzige Hotel der Stadt, das sich einigermaßen sehen lassen kann. Eranie gibt Ihnen sicher Rabatt, wenn Sie ihr sagen, dass Sie von mir kommen. Wir kennen uns schon seit vielen Jahren.«
    Eranie Waechter gab ihr das Zimmer sogar für die Hälfte, als sie hörte, dass Hannah aus Deutschland kam. Auch die Frau mit dem langen Zopf stammte aus Württemberg und war froh, ihr bruchstückhaftes Deutsch an jemandem ausprobieren zu können. »Wollen you ein heißes Bad?«, brachte sie beinahe fehlerfrei heraus. Und ob Hannah ein heißes Bad wollte! Eine halbe Stunde später saß sie in einem hölzernen Zuber und genoss das heiße Wasser und den Duft der frischen Seife. Sie wusch sich so gründlich und rieb ihre Lippen so oft mit Seifenwasser ab, dass nicht einmal ein Spürhund gewittert hätte, was am Mount McKinley passiert war. Wenn sie nur daran dachte, ekelte es sie.
    Sie sah aus dem Fenster und ließ die unendliche Weite des Landes auf sich wirken. Ihr Blick streifte über die Häuser der Stadt hinweg zum Chena River und den dahinter aufragenden Bergen, und sie geriet ins Schwärmen. Dies war das Land des weiten Himmels, von dem sie schon in der alten Heimat geträumt hatte. Nur hier war man wirklich und wahrhaftig frei.
    Schon jetzt spürte sie die beruhigende Wirkung, die von diesem weiten Land ausging. Hier würde sie ein neues Leben beginnen, fernab von New York und Männern wie Behringer, ohne die Willkür eines Mr Gottfried. Leise seufzend, den Kopf an den Wannenrand gelehnt, träumte sie von der Zukunft, bis das Brummen eines Flugzeugmotors sie aus der Wanne lockte. Sie wickelte ein Handtuch um ihren nassen Körper und lief zum Fenster, blieb seitlich stehen, um von der Straße aus nicht entdeckt zu werden, und sah einen roten Doppeldecker über den Chena River fliegen. Kurz vor dem Tanana River drehte er ab und kehrte zur Stadt zurück, wackelte mit den Tragflächen, wie es alle Flieger taten, wenn sie eine Freundin grüßten.
    Hannah brauchte kein Fernglas, um Clyde Bannister trotz seiner Lederkappe und seiner Schutzbrille zu erkennen. Das wusstest du doch vorher, du dumme Pute, warf sie sich in Gedanken vor, warum bist du nicht in der Wanne geblieben? Sie wandte sich ärgerlich vom Fenster ab, rubbelte ihren Körper trocken und zog einen bequemen Rock und eine Bluse über ihre frische Unterwäsche. Um ihren Kopf mit den feuchten Haaren wickelte sie ein trockenes Handtuch.
    In dieser Verkleidung tauchte sie in der Wohnung von Eranie Waechter auf. Die Besitzerin des Hotels hatte sie zu Sandwiches und heißem Tee eingeladen. »In Fairbanks bekommen wir nicht mit, was in der Welt so vor sich geht«, sagte sie, und Hannah antwortete: »Das ist ja das Schöne, hier kannst du alle Sorgen über Bord werfen. Hier zählt nur, was du wirklich bist.« Sie beantwortete geduldig alle Fragen, erzählte vom Leben auf dem Bauernhof in der Nähe von Ulm, dem entbehrungsreichen Leben in New York und gestand, dass man von dem glamourösen Leben auf der Fifth Avenue kaum etwas mitbekam, wenn man auf jeden Cent schauen musste. Die Freiheitsstatue sei eindrucksvoll, die Brooklyn Bridge ein Wunderwerk der Technik, aber das alles verblasse doch vor der prächtigen Bergkulisse direkt vor ihren Fenstern.
    Mit der deutschen Sprache kam Eranie Waechter weniger gut zurecht, obwohl sie es mehrmals versuchte, dazu war sie schon viel zu lange weg von der alten Heimat. Auch Hannah hatte lange kein Deutsch mehr gesprochen, erinnerte sich aber noch an einige Geschichten und Lieder

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