Im Land des weiten Himmels
aus ihrer Kindheit und brachte Eranie die erste Strophe von »Am Brunnen vor dem Tore« bei. Die Hotelbesitzerin revanchierte sich mit einem derben Trinklied aus der Zeit des Goldrausches, der um 1902 zur Gründung von Fairbanks geführt hatte. »Damals ging es hier noch hoch her.«
Am nächsten Morgen ging Hannah bei Schwester Becky in der Northern Lights Clinic vorbei, einer Klinik mit zwei Krankenzimmern, einem für weibliche und einem für männliche Patienten, mit jeweils sechs Betten und zwei Ambulanzräumen. Becky hatte ihre Besucherin bereits erwartet, stellte sie dem Arzt vor, und führte sie durch das kleine Krankenhaus. Im Schwesternzimmer tranken sie Kaffee im Stehen. »Unsere Betten sind belegt, und wir haben gerade alle Hände voll zu tun«, sagte sie, »deshalb wird es diesen Monat nichts mehr mit unserer Tour. Und der reguläre Dampfer fährt zum Yukon, der nützt Ihnen nicht viel.« Sie blickte auf die Landkarte an der Wand. »Es sei denn, Sie wollen sich zwanzig Meilen allein durch den Busch schlagen. Selbst mit einem Boot wäre das nicht ungefährlich. Sie wären nicht die Erste, die allein in die Wildnis zieht und spurlos verschwindet.«
Hannah erinnerte sich an den Brief ihres Onkels. »Mein Onkel Leopold schrieb etwas von einem Postreiter, der mich mitnehmen könnte. Er würde ihn bezahlen, sobald wir seine Hütte erreicht hätten.« Sie nippte am Kaffee.
»An den habe ich auch schon gedacht.« Becky ging zum Schreibtisch und schrieb eine Adresse auf einen Zettel. »Buddy Lyman. Ein ehemaliger Cowboy aus Montana. Er kam schon während des Goldrauschs nach Fairbanks und kennt sich besser in der Wildnis aus als die meisten Indianer. In letzter Zeit lässt er es etwas ruhiger angehen, aber für den Postdienst reicht es immer noch. Ich hab gehört, dass er morgen wieder auf Tour gehen will. Wenn Ihr Onkel gut bezahlt, lässt er sich vielleicht auf einen Deal ein. Wie ich ihn kenne, sitzt er gerade bei der alten Lucy im Golden Moose und schnorrt sich sein Frühstück zusammen. Das macht er immer so, bevor er losreitet.« Sie reichte ihr den Zettel mit der Adresse. »Vom Hotel gleich um die Ecke.«
Hannah bedankte sich und steckte den Zettel in ihre Rocktasche.
»Und lassen Sie sich nicht von ihm einschüchtern«, warnte Schwester Becky, als sie zur Tür gingen. »Auf Frauen ist das alte Raubein nicht besonders gut zu sprechen. Es ärgert ihn jetzt noch, dass Washington das Wahlrecht für Frauen eingeführt hat. Weiber hätten keine Ahnung von Politik, sagt er.«
»Aber er hat Ahnung?«
Schwester Becky lachte. »Das habe ich ihn auch gefragt. Er wusste nicht mal, wie der Präsident heißt, und den Gouverneur von Alaska kannte er auch nicht. Geben Sie ihm ordentlich Kontra, dann lässt er Sie irgendwann in Ruhe. Er hat ein weiches Herz, das will er nur nicht zugeben.« Sie umarmten einander fest, und Schwester Becky sagte: »Sie melden sich doch?«
»Sicher«, versprach Hannah, »spätestens vor dem ersten Schnee komme ich noch mal nach Fairbanks. Und Sie melden sich, wenn Sie die Indianer besuchen.«
»Versprochen. Ich hoffe, Sie finden da draußen, was Sie suchen.«
»Ganz bestimmt, Schwester Becky.«
Hannah verlor keine Zeit und steuerte den Golden Moose an. Leichter Nieselregen wehte ihr entgegen. Der böige Wind ließ ihren Mantel flattern und zwang sie dazu, ihren Hut mit einer Hand festzuhalten. In der anderen trug sie ihre Handtasche. Außer ihr waren nur noch wenige andere Passanten unterwegs, auch die Automobile konnte man in Fairbanks an einer Hand abzählen.
Der Golden Moose war nicht zu übersehen. Über dem Eingang hing ein Schild mit einem goldenen Elch, und der Name des Restaurants stand in goldenen Lettern auf dem Schaufenster. Sie öffnete die Tür und betrat das Lokal.
Buddy Lyman saß am Tresen und verspeiste Rühreier mit Speck, dazu gab es Bratkartoffeln, Bohnen und gebutterten Toast. Neben seinem Keramikbecher stand eine Kanne Kaffee. Auch wenn außer ihm noch mehr Männer im Lokal gewesen wären, hätte sie ihn an dem runden Abzeichen an seiner verschlissenen Lederjacke erkannt: U.S . Mail. Sie setzte sich ungefragt neben ihn, bestellte Kaffee bei der jungen Bedienung und fragte: »Buddy Lyman?«
»Wer will das wissen?« Seine Stimme klang ärgerlich.
»Hannah Stocker«, stellte sie sich vor. Sie legte ihre Handtasche auf den Tresen. »Ich hab Ihren Namen von Schwester Becky. Sie wollte mich eigentlich zu meinem Onkel Leopold an den Gold River mitnehmen, hat aber
Weitere Kostenlose Bücher