Im Licht des Vergessens: Roman (German Edition)
brauchen.«
»Sie hat uns auch nicht aufgenommen, als Daddy gestorben ist oder als …«
»Aber jetzt schon«, sagte Essie gereizt. »Und wir sind ihr dankbar dafür. Wir müssen einfach.«
»Für wie lange?«
»Wir müssen einfach«, wiederholte Essie.
Sie fuhren in einem Polizeiauto zu Bess, während Carter den kalten Hamburger mitsamt den Pommes hinunterschlang und die Cola hinterherschüttete. Sie fuhren um den Park mit dem Springbrunnen herum. Das große, alte Herrenhaus hatte eine Fassade aus rosa Ziegelsteinen und weiße Fensterläden. Es war umgeben von einer üppigen grünen Rasenfläche, gepflegten Blumenbeeten und großen, Schatten spendenden Bäumen. Das hier war eine völlig andere Welt als das winzige Häuschen, in dem Phoebe mehr als acht Jahre ihres Lebens verbracht hatte.
Sie bemerkte, wie übertrieben gerade sich ihre Mutter hielt, als sie die steinerne Treppe zur Haustür hochliefen, also tat sie es ihr gleich.
Mama klingelte. Die Frau, die aufmachte, war jung und wunderschön. Bei ihrem Anblick musste Phoebe sofort an einen Filmstar denken, wegen der langen blonden Haare und der zierlichen Figur.
Das Mitgefühl stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie die Hände nach Essie ausstreckte. »Mrs. MacNamara, ich bin Ava Vestry, Ms. MacNamaras persönliche Assistentin. Bitte kommen Sie herein, kommen Sie herein. Ihre Zimmer sind bereits gemacht. Sie müssen erschöpft sein. Ich bringe Sie gleich nach oben. Oder möchten Sie vielleicht erst noch etwas frühstücken oder eine Tasse Tee?«
»Du brauchst kein solches Getue um sie zu machen.«
Diese Worte kamen von Bess, die in einem krähenschwarzen Kleid und mit missbilligender Miene auf dem Treppenabsatz stand. Ihr Haar war grau und an den Schläfen merkwürdig nach außen gerollt.
Wie immer genügte ein Blick auf die Cousine ihres Vaters, und Phoebe musste an die böse Elvira Gulch aus Der Zauberer von Oz denken. Böse alte Hexe.
»Danke, dass du uns aufnimmst, Bess«, sagte Mama mit derselben ruhigen Stimme, die sie benutzt hatte, als ihr Reuben die Waffe an den Kopf hielt.
»Es wundert mich gar nicht, dass du dich in eine derartige Lage gebracht hast. Ihr drei wascht euch erst mal anständig, bevor ihr euch an meinen Tisch setzt oder in meine Betten legt.«
Erschöpft schloss Phoebe die Augen. Man hatte sie vielleicht nicht erschossen und umgebracht, aber ihr Leben schien auch so vorbei zu sein.
Essie pflegte Bess’ Haus zwanzig Jahre lang. Sie schrubbte, polierte und arrangierte. Sie bediente diese anspruchsvolle alte Frau bis zu ihrem Tod.
In diesen zwanzig Jahren wurde das Haus zu Essies Welt – nicht nur zu ihrem Zuhause. Es war ihre gesamte Welt. Und alles, was außerhalb seiner Mauern lag, machte ihr Angst. Inzwischen war es fast zehn Jahre her, dass sich Essie über die Terrasse und den Garten hinausgewagt hatte.
Reubens Tod im Gefängnis hatte ihr diese Angst auch nicht nehmen können, dachte Phoebe, als sie aufstand, um ihre Waffe in den abschließbaren Tresor im obersten Regal ihres Schranks zu legen. Und das bittere Ende von Bess’ verbittertem Leben hatte das Tor zur Freiheit auch nicht für sie aufstoßen können.
Wenn Bess das Richtige getan und ihrer Mutter das Haus vererbt hätte, anstatt Phoebe damit zu belasten – hätte das dann irgendwas geändert? Ginge es ihrer Mutter dann besser? Würde sie es dann wagen, das Haus zu verlassen, durch den Park zu spazieren und die Nachbarn zu besuchen?
Sie würde es nie erfahren.
Und was wäre mit ihr, wenn es diese Nacht nie gegeben hätte? Hätte sie Roy trotzdem geheiratet? Hätte sie Mittel und Wege gefunden, ihre Ehe zu retten und ihrer Tochter den Vater zu geben, den sie verdient hatte?
Auch das würde sie nie erfahren.
Sie hatte geweint, als sie das letzte Mal mit Roy gesprochen hatte, hauptsächlich aus Wut. Trauer und Enttäuschung lagen schon lange zurück; damals war Carly noch ein Baby gewesen. Ihr Leben war auch so schon kompliziert genug, sagte Phoebe sich und dachte an ihre Einladung zum Essen am Samstagend, während sie sich umzog. Sie warf einen Blick auf die rosa Lilien in der kobaltblauen Vase auf ihrer Kommode. Die Blumen waren schön. Aber Blumen verwelken und sterben irgendwann.
6
Nach einem gemütlichen Abend vor dem Fernseher trug Phoebe ihre schlafende Tochter ins Bett. So lange aufbleiben, wie man will, bedeutete heute gerade mal bis kurz nach Mitternacht.
Zwanzig Minuten später schlief Phoebe genauso tief und fest wie ihre
Weitere Kostenlose Bücher