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Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Titel: Im Licht von Apfelbäumen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Coplin
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aus der Einzelhaft mit ihr den Flur entlangging – wobei er sie am Ellbogen festhielt, weil sie Mühe hatte, sich aufrecht voranzubewegen; die Dunkelheit hatte sie mehr geschwächt, als sie es für möglich gehalten hätte –, war er auf behutsame Art freundlich zu ihr gewesen: Also, ich weiß, dass das unangenehm für Sie war, aber Sie verstehen jetzt sicher, warum wir es als Abschreckung anwenden …
    Sie nahm den Brief entgegen. Als Gegenstand war er ihr vollkommen fremd, wie ein Stück vom Mond oder ein Diamantcollier. Der Amtsrichter wartete darauf, dass sie etwas sagte.
    Nach kurzem Zögern gab sie ihm den Briefumschlag zurück, ohne hineingeschaut zu haben.
    Ich kann ihn nicht lesen. Womit sie offenbar meinte, dass sie buchstäblich nicht dazu fähig war.
    Der Amtsrichter ließ eine Minute verstreichen. Der Brief lag vor ihm auf dem Tisch, doch er sah nicht hinein.
    Er möchte Sie besuchen. Das habe ich Ihnen schon gesagt. Sein Name ist William Talmadge. Er musterte sie. Woher kennen Sie ihn?
    Und Della erinnerte sich: Am Tag, bevor sie Michaelson angegriffen hatte, war der Amtsrichter während ihres Hofgangs zu ihr gekommen. Er habe einen Brief von einem Rechtsanwalt aus der Nähe von Wenatchee erhalten, der im Namen eines Klienten um die Genehmigung bitte, sie zu besuchen.
    Möchten Sie ihn sehen?, hatte der Amtsrichter sie damals gefragt.
    Er will
herkommen?
, hatte Della zurückgefragt. Und nach ihrer ersten Überraschung gedacht: Das geht natürlich nicht. Doch bei der Erwähnung seines Namens hatte sie ein frohes Gefühl in ihrem Bauch gespürt.
    Nein, hatte sie gesagt. Ich möchte ihn nicht sehen.
    Doch der Mann, Talmadge, war trotzdem gekommen. Della bot alle Kraft ihrer Vernunft und Logik auf – sie war müde und durcheinander, man hätte sie vor diesem Gespräch länger ausruhen lassen müssen – und fragte: Warum ist er gekommen, wenn Sie ihm gesagt haben, er kann mich nicht besuchen?
    Der Amtsrichter berührte einen Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch. Er antwortete nicht gleich.
    Ich habe ihm geschrieben, dass er kommen kann, sagte er.
    Della, die allmählich begriff, worauf er hinauswollte, schwieg.
    Ich glaube, Ihnen ist nicht klar – ich glaube, Sie
verstehen
nicht –, in was für Schwierigkeiten Sie womöglich stecken. Wegen der Tat, die Sie schon gestanden haben, aber nun auch wegen dieses jüngsten Übergriffs – der Amtsrichter schüttelte den Kopf. Ich glaube nicht, dass Sie es sich leisten können, auf Hilfe zu verzichten. Entschuldigen Sie. Ich will nur Ihr Bestes …
    Della sagte nichts. Die besorgten Worte des Amtsrichters berührten sie nicht. Sie hatte ihn für intelligent gehalten, wenn auch nicht gegen alle Manipulation gefeit; doch seit der Sache mit der Einzelhaft war sie sich nicht mehr sicher, ob er nicht doch wie andere Männer war, die sie kannte: wie Michaelson. Nun wusste sie nicht mehr, was sie von ihm denken sollte. Als er sagte,
Ich will nur Ihr Bestes,
tat sie es augenblicklich ab, glaubte ihm nicht. Es waren nur Worte, die allein dem Zweck dienten, Kontrolle über sie auszuüben.
    Sie erlaubte sich – kurz –, an Talmadge zu denken. Stellte sich vor, wie er nach Chelan gekommen war – mit dem Maultier? Oder hatte er das Dampfschiff genommen? – und zum Gericht, auf der Suche nach ihr. Sie wusste, was passiert war: Er hatte sich zur verabredeten Zeit eingefunden, und als man ihm mitteilte, was los war – aber was genau hatten sie ihm gesagt? –, hatte er vielleicht erwogen, eine Diskussion anzufangen, es dann aber sein lassen. Er hatte die Umstände akzeptiert. Und ihr eine Nachricht geschrieben. Auf einmal wusste sie, was in dem Brief stand, sie brauchte ihn gar nicht zu lesen: dass er hergekommen sei, um sie zu besuchen, was aber nicht möglich gewesen sei. Dass er hoffe, es gehe ihr gut. Und dass er wiederkommen werde.
    Und als der Amtsrichter ihr den Brief vorlas – er war es, der das unbedingt wollte, nicht sie –, stand genau das darin.
    Darf er kommen?, fragte der Amtsrichter, während er den Brief faltete und wieder in den Umschlag steckte.
    Kann ich mir das aussuchen?, fragte sie ohne Feindseligkeit, ohne Sarkasmus. Es war lediglich eine Bemerkung, die zeigte, dass sie sich ihrer Machtlosigkeit bewusst war.
    Der Amtsrichter lächelte. Es ist besser so, sagte er. Lassen Sie sich von ihm und seinem Anwalt helfen.
    Ich brauche keine Hilfe, dachte sie, als sie wieder in ihre Zelle geführt wurde. Ich brauche Zeit und Ruhe, um

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