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Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Titel: Im Licht von Apfelbäumen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Coplin
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über die Fingerknöchel. Der Wärter führte Michaelson weg.
    Der ist doch schon angeschlagen!, rief einer. Was soll das?

    In Chelan erkundigte Talmadge sich beim erstbesten Passanten, wo das Gericht sei. Er fuhr dorthin und betrachtete im Wagen sitzend das Gebäude, in dem Della untergebracht war. Es war kleiner, als er es sich vorgestellt hatte, wirkte aber angemessen offiziell und war solide gebaut, aus hellem Granit und Backstein. Große Rasenflächen erstreckten sich auf beiden Seiten der breiten Treppe, die vom Gehweg zur Eingangstür hinaufführte. Auf der Straße davor reihte sich Automobil an Automobil. Er sah nur zwei von Pferden gezogene Wagen.
    Ganz in der Nähe fand er Stallungen und eine Pension. In seinem Zimmer im ersten Stock wusch er sich an einer mit Wasser gefüllten Porzellanschüssel, die ihm die Wirtin brachte, und kämmte sich das Haar. Er wickelte den Anzug aus, den er mit Papier und Schnur verpackt hatte, und zog ihn an. Betrachtete sein Abbild im verbeulten Spiegel über der Schüssel, ohne sich recht darin wiederzuerkennen. Unten fragte er die Wirtin, wo er etwas essen könne, und ließ sich von ihr den Weg zu einem nicht weit entfernten Lokal erklären. Er ging hinaus und sog die Luft ein, die andersartig war: erfüllt vom Dunst des großen, kalten, von hier aus nicht sichtbaren Sees und dem schärferen Geruch der Kiefern. Dahinter: Staub. Die Frauen, denen er auf der Straße begegnete, trugen feine Kleider; eine hatte einen Strohhut auf, der mit einer blauen Schleife unter ihrem Kinn festgebunden war. Sie blickte ihn aus hellgrünen Augen offen an, bevor sie wieder wegschaute.
    In dem Lokal setzte er sich in eine Nische am Fenster, durch das er die draußen vorbeigehenden Leute beobachten konnte, aß Steak und Eier und trank Kaffee. Danach ging er ein Stück die Straße hinunter, wo er unweit vom Gericht einen Friseurladen gesehen hatte, und ließ sich rasieren und die Haare schneiden. Als der Friseur fertig war und Talmadges Nacken abgebürstet hatte, schaute er sich selbst im Spiegel an.
    Gefällt’s Ihnen nicht?, fragte der Friseur.
    Doch, doch, sagte Talmadge. Er war vielmehr von seinem eigenen Anblick bewegt; konnte sich nicht erinnern, wann sein Gesicht zuletzt so nackt gewesen war. Er war nicht hübsch – war es nie gewesen –, doch das scharfe Rasiermesser hatte sein in Falten herabhängendes Fleisch entblößt – um die Augen, um den Mund, unter dem Kinn – und auch die Windpockennarben, lauter Einkerbungen, die aus seiner Kindheit stammten. Er fühlte sich schlicht ungeschützt. Das Einzige, was er an diesem Gesicht wiedererkannte, waren die Augen, unverändert kornblumenblau, die ihn anstarrten wie ein erschrockenes Tier.
    Er musste plötzlich denken, dass er sich mit diesem Friseurbesuch wie ein Jugendlicher benahm, der gleich sein Mädchen abholen wollte. Er, der für solche Sachen viel zu alt war. Er hatte sich gefragt, ob er zu weit ging. Doch nun sah er sein Spiegelbild und sagte sich, dass alles so war, wie es sein sollte. Er war alt, aber er gab sich Mühe. Immerhin war er gereist, und sie hatte ihn lange nicht gesehen. Es war nur normal, dass er sich Mühe gab.
    Sie war durch viel Leid in diese Lage geraten, rief er sich in Erinnerung – aber musste er das überhaupt? –, als er die Treppe zum Gericht hinaufging.
    Drinnen roch es schwach nach Benzin. Seine Schritte hallten laut über den langen Korridor. In einem Büro neben einer breiten Treppe fragte er nach dem Amtsrichter.
    Ein junger Mann mit Brille, der hinter dem Schalter arbeitete, teilte ihm mit, der Amtsrichter sei nicht da, werde aber am Nachmittag erwartet. Talmadge könne entweder später wiederkommen oder hier auf ihn warten. Talmadge fragte ihn, wie lange es dauern würde. Der junge Mann zuckte mit den Schultern. Eine Stunde, vielleicht zwei. Talmadge könne gern so lange draußen auf der Bank Platz nehmen, wenn er wolle.
    Talmadge setzte sich auf die Bank vor der Bürotür, nahm den Hut ab und legte ihn auf sein Knie. Nach ungefähr einer Stunde stand er auf, ging den Korridor entlang und sah sich die großen Porträts der bedeutenden Männer – Richter? – an den Wänden an. Dann setzte er sich wieder auf die Bank. Nach einer weiteren halben Stunde betrat er noch einmal das Büro. Der junge Mann sah überrascht zu ihm auf. Talmadge fragte ihn, ob er glaube, dass der Amtsrichter noch kommen würde. Der junge Mann zögerte, bevor er sagte, das sei sehr wahrscheinlich, denn er habe am

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