Im Licht von Apfelbäumen | Roman
vorstellen; in einer solchen Situation räumte er die Möglichkeit einer gewissen Geistesschwäche ein.
Und vielleicht war ihr danach irgendwann bewusst geworden, was sie da getan hatte – dass sie etwas Schreckliches gestanden hatte, das noch dazu gar nicht der Wahrheit entsprach –, und schämte sich nun, ihr Geständnis zurückzuziehen.
Was ihren Angriff auf den anderen Häftling betraf, glaubte Talmadge nicht, dass dieser vollkommen unschuldig daran war. Er hatte Della höchstwahrscheinlich etwas zugerufen, sie gehänselt. Provoziert. Talmadge glaubte dem Amtsrichter nicht, dass Della und die Männer keinen Kontakt hatten – natürlich hatten sie das. Er begriff nicht, wie der Amtsrichter so naiv sein konnte. Della und die Männer waren im selben Trakt untergebracht. Körperlicher Kontakt war nur ein Teil der tatsächlichen Gefährdung.
Della hatte für alles ihre Gründe, glaubte er. Er brauchte nur mit ihr zu reden, um zu verstehen, was passiert war – um die
Wahrheit
zu verstehen; dann wüsste er auch, wie er ihr am besten helfen konnte. Beim ersten Mal war er von dem Wiedersehen mit ihr überwältigt gewesen. Doch nächstes Mal würde er alle Informationen einholen und weder Schweigen noch ausweichende Antworten akzeptieren; er würde sich vorbereiten, würde streng sein müssen. Sogar einschüchternd, dachte er; obwohl er nicht genau wusste, wie er so ein Gespräch führen sollte …
Von nun an ließ der Amtsrichter die Wärter alles vom Hof fegen, woraus man Waffen machen konnte.
Aber der Hof war groß.
Auf ihrem Rundgang gab es in einer Vertiefung nahe am Zaun eine Art Steinbruch – die kleineren Steine waren von den Wärtern eingesammelt worden, und nur die größeren, halb im Boden vergrabenen, waren liegen geblieben. Dort in dem Salbeistrauch leuchtete ganz kurz – oder war es eine Luftspiegelung? – eine flache grüne Flasche auf, die fast völlig mit Staub bedeckt war. Eine langbeinige Spinne krabbelte aus ihrer Öffnung, als Della sie aufhob.
Sie stand mit dem Rücken zum Gebäude; vielleicht beobachtete der Wärter sie, vielleicht auch nicht. Sie steckte die Flasche in ihren Hosenbund und zog das Hemd darüber. Strich es glatt und blickte über die Schulter. Doch niemand sah zu ihr hin, niemand passte auf. Sie ging weiter, zum anderen Ende des Hofes.
Normalerweise zog Angelene am liebsten unauffällige, anspruchslose Hauskleider an und dazu den typischen Strohhut, wenn sie in die Sonne ging oder mit dem Wagen zur Stadt fuhr, doch an ihrem Geburtstag trug sie gern Kleider in hellen Blumenfarben. Außerdem wusch sie sich die Haare und flocht sie zu Zöpfen, so wie früher, als sie klein war. Damals hatte er sie ihr geflochten und die Enden fest mit Garn zugebunden. Er hatte dieses Geburtstagsritual, bei dem sie sich so merklich anders kleidete als sonst, nie thematisiert, weil er dachte, es könnte ihr peinlich sein, darauf angesprochen zu werden.
Als sie vierzehn wurde, eine Woche, nachdem er von seiner zweiten Fahrt nach Chelan zurück war, kam er am frühen Morgen aus seinem Schlafzimmer und sah, dass sie Frühstück machte. Seit etwa einem Jahr wachte sie vor ihm auf – bei Sonnenaufgang oder kurz danach – und verbrachte den Morgen allein, meistens draußen, wo sie herumwanderte und nach dem Obst schaute. Ihren Gedanken nachhing, von denen sie ihm manchmal erzählte und manchmal nicht. Jetzt warf sie ihm einen kurzen Blick zu und brachte ihm, als er sich an den Tisch gesetzt hatte, Kaffee. Sie trug das blasslilafarbene Kleid, das Caroline Middey ihm schon zwei Wochen vor ihrem Geburtstag für sie mitgegeben hatte. Es war aus demselben Material, dachte er, wie das Hemd, das Caroline Middey für Della genäht hatte. Der Morgen war kalt; die Tür stand offen, und das Mädchen hatte sich einen Schal um die Schultern gelegt. Die Art, wie sie ihn vor ihrer Brust zusammenhielt, war ausgesprochen weiblich, dachte er. Sie warf ihm erneut einen Blick zu und sagte: Was?
Du siehst hübsch aus.
Na ja … Sie drehte sich wieder zum Herd um und rührte Eier. Errötete.
Caroline Middey kam am späten Vormittag. Sie schaute zu den Männern und Pferden hinunter, als sähe sie sie jeden Tag, und bat Angelene, ihr beim Ausladen der Lebensmittel zu helfen.
Ihr Geburtstag verlief nach einem bestimmten Ritual: Die Männer trafen stets zwei oder drei Tage vorher ein und begannen schon mit der Arbeit in den Bäumen, und am Tag selbst kam Caroline Middey mit den Lebensmitteln, die
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