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Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Titel: Im Licht von Apfelbäumen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Coplin
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fassen, dass sein Körper beide innerhalb eines einzigen Tages erreichen konnte. Es erschien ihm nicht richtig. Die Schnelligkeit war es, die ihn überforderte und seine Empfindsamkeit störte. Er hatte sich sein Leben lang stets langsam fortbewegt. Er war es gewohnt zuzusehen, wie die Dinge sich durch Temperatur und Licht aus sich selbst heraus entwickelten, nicht durch rohe Einwirkung.
    Doch dies war etwas anderes. So lebten die Menschen heutzutage.

    Aber was hat sie
getan?
, fragte Angelene. Sie und Caroline Middey saßen auf der Veranda und schälten Kartoffeln. Dieser Frage – diesem Ausbruch – war eine Reihe schüchterner Fragen vorausgegangen, die das Mädchen behutsam dosiert hatte, um Caroline Middey nicht zu irritieren, sie nicht zu beunruhigen. Doch als Angelene nur vage Antworten bekam – Sie hat ein anderes Leben geführt als du oder ich, die Arme, oder: Sie ist gerade wieder zur Vernunft gekommen, Gott segne sie, sie übernimmt die Verantwortung für ihr Tun; und das von einer Frau, die immer ehrlich zu ihr gewesen war und ausweichende Antworten vermieden hatte, die ihr stets geradeheraus gesagt hatte, was sie dachte, was los war –, hatte sie schließlich die Geduld verloren und die Frage gestellt, um deren Antwort Caroline Middey die ganze Zeit herumredete …
    Was hat sie
getan?
    Caroline Middey hielt in ihrer Arbeit inne, wischte sich dann mit dem Handrücken über die Stirn. Es wirkte, als hätte sie Angelenes Frage nicht gehört, aber Angelene wusste, dass sie nachdachte und antworten würde, wenn sie so weit war.
    Gut, ich werde es dir erzählen, sagte Caroline Middey. Und es wird nicht leicht zu verdauen sein, ganz bestimmt nicht, aber ich warne dich – sie hob den Blick von den Kartoffeln –, du wirst ein Urteil über sie fällen wollen, und das ist wohl auch dein gutes Recht, aber als … als Teil ihrer … Familie … hast du die Pflicht, dir ihre ganze Geschichte anzuschauen. Also, sie hat einen Mann niedergestochen. Ja. Und das ist furchtbar. Einfach furchtbar. Aber … wir kennen die Umstände nicht, nicht mal ich, nicht mal Talmadge. Er und der Richter versuchen gerade, mehr herauszufinden. Sie hat einen Mann niedergestochen … wir wissen nicht, warum oder wer er war … und sich dann gestellt. Das sind die Tatsachen. Aber ich bezweifle, dass es auch nur die halbe Wahrheit ist.
    Angelene hörte genau zu. Sie wusste nicht, ob sie von dieser Nachricht unbeeindruckt war – ob sie damit gerechnet hatte, dass es etwas mit Gewalt zu tun hatte – oder ob der Schock sie betäubt hatte. Sie fühlte so gut wie gar nichts. Was sie am meisten beeindruckte, war, dass Talmadge jemanden besuchte,
der einen Mann niedergestochen hatte.
    Ist er tot?, fragte Angelene. Der Mann?
    Nicht mal das wissen wir, sagte Caroline Middey.

    Zwei Wärter und der Amtsrichter kamen vor dem Frühstück in Dellas Zelle, und der Amtsrichter bat sie, in die Ecke zu treten und dort zu bleiben: Sie würden ihre Zelle nach Waffen durchsuchen.
    Hier sind keine, sagte sie.
    Treten Sie bitte zurück, Della.
    Sie gehorchte. Was sie erschreckte, war, dass er sie Della genannt hatte. Bisher hatte er sie immer mit Miss Michaelson angesprochen. Sie wusste nicht, warum sie das so beunruhigte.
    Sie stand mit dem Rücken zu ihnen da, damit sie ihnen nicht zusehen musste. Sie fanden einen weiteren Stock, den sie schon zur Hälfte gespitzt hatte, und ihre Steinsammlung. Und eine Flasche.
    Das ist ganz schlecht, sagte der Amtsrichter leise, als er an ihr vorbeiging. Die Wärter schlurften hinter ihm her. Die Tür wurde geschlossen und zugesperrt; sie war wieder allein.

    Es gab eine Äußerung des Amtsrichters, die Talmadge zunächst wieder vergessen hatte, von der er aber Tage später heimgesucht wurde: Della habe, als sie »reinkommen wollte« – also in die Haftanstalt –, »vor Mitteilungsbedürfnis nur so gesprudelt«. Talmadge war erstaunt gewesen, dass der Amtsrichter es so formulierte. Warum um alles in der Welt sollte irgendjemand eingesperrt werden
wollen?
Und warum Della?
    Vielleicht war die Antwort ganz einfach. Es war noch Winter, als sie sich gestellt hatte – oder Frühlingsanfang? Wahrscheinlich fror sie und hatte Hunger. Wärmeres Wetter war im Anzug, aber sie konnte es nicht mehr abwarten. Er nahm an, dass sie zum Zeitpunkt ihres Geständnisses ohne Obdach war, und womöglich – aufgrund ihrer körperlichen Verfassung – auch nicht ganz bei Verstand. So viel immerhin konnte er sich

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