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Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Titel: Im Licht von Apfelbäumen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Coplin
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einmal nach ihr gefragt, und sie hatte geantwortet, ihr Name sei Diana gewesen. Dann war sie schnell durch die Hintertür in den Garten gegangen. Erst da hatte Talmadge verstanden, dass sie ergriffen war und nicht über das Mädchen sprechen wollte. Also taten sie es auch nicht.
    Pass bloß auf, sagte Caroline Middey jetzt auf der Veranda. Du weißt nicht, in was diese Mädchen verwickelt sind.
    Er könnte ihr Vater sein, dachte Talmadge. Es könnte sein, dass sie von zu Hause weggelaufen sind …
    Oh, das glaube ich nicht, sagte Caroline Middey, obwohl er es nicht laut ausgesprochen hatte. Ihr Blick veränderte sich nicht. Sie hatte ein faltiges Gesicht und schlaffe Wangen. In sich zusammengesackt, mit finsterer Miene, saß sie in ihrem Korbstuhl.
    Nach langem Schweigen sagte er: Brauchst dir keine Gedanken drüber zu machen, so oder so. Sie sind weg.
    Die kommen wieder, sagte Caroline Middey und sah ihn an. Du hast ihnen doch was zu essen gegeben, oder? Dann kommen sie wieder.
     
    Am nächsten Morgen kochte er Kaffee und aß den Rest Milchbrötchen und Speck vom Vorabend. Es war noch früh und kühl, und er beschloss, Holz zu hacken.
    Manchmal musste er sich morgens physisch anstrengen, um seinen Kopf – und auch seinen Körper, sein Körper war nicht immun – von Träumen zu befreien. Von dem säuerlichen Nachgeschmack mancher Träume.
    Es gab lange Phasen, in denen er gar nicht an Elsbeth dachte. Die Zeit war letzten Endes dazwischengekommen, sodass der Kummer ihn nicht umgebracht hatte. Bisweilen schaffte er es, sich ihr Schicksal nüchtern vor Augen zu halten, sich davon zu distanzieren: Er hatte eine Schwester gehabt, sie war im Wald verschwunden, und niemand wusste, was aus ihr geworden war. Das lag alles lange zurück; er hatte sein Leben weitergelebt, ihre Abwesenheit akzeptiert. So redete er es sich selber ein, und zum Teil stimmte es auch. Aber manchmal war er so empfindlich, dass der kleinste Lufthauch seine Haut reizte und die Frage, was ihr zugestoßen sein mochte, was sie womöglich erlitten hatte, ihn heftig quälte. Die Litanei der Möglichkeiten war immer irgendwo in ihm, und in Augenblicken der Schwäche nahm er Zuflucht zu ihr, ging sie durch, änderte hier eine Möglichkeit ab, fügte dort eine hinzu.
    Vielleicht war sie geflohen. An einen Ort, von dem sie gehört, den sie sich ausgemalt hatte. (Hatte er selbst ihre unausgesprochenen Gedanken letztlich so genau gekannt, wie er glaubte?) Ohne ihm ein Wort zu sagen, weil sie ihn nicht verletzen wollte. Sie mochte nicht mehr auf der Obstplantage leben. Hätte er das akzeptiert? Vielleicht hatte sie die Hilfe eines Fremden in Anspruch genommen, um dann von ihm ausgenutzt und der kleinen Geldsumme beraubt zu werden, die sie wahrscheinlich bei sich hatte. Oder sie war in einer Großstadt ausgesetzt worden, wo sie unter Armut litt, wie es sie nur in Städten gab. In Seattle vielleicht. In Spokane. Kanada. San Francisco. Vielleicht war sie jemandes Frau. Vielleicht war sie Mutter. Vielleicht waren ihre Kinder gestorben – an einer Krankheit, bei einer Katastrophe –, oder sie hatte den Tod ihres Mannes zu verschmerzen. Vielleicht lebte ihr Mann, war aber nicht gut zu ihr. Vielleicht musste sie hungern. Woran dachte sie, wenn sie jetzt in einen Apfel biss? In eine Aprikose? Er konnte sich nicht denken, dass sie, falls sie noch lebte, womöglich glücklich war. Denn dann hätte sie ihn doch nicht so lange ausgeschlossen. Das wäre zu grausam.
Talmadge, ich musste weggehen, damals hättest du es nicht verstanden, aber ich hoffe, du verstehst es jetzt und kommst einmal zu mir …
    Vielleicht hatte sie an jenem Tag aber auch gar nicht die Absicht gehabt, fortzugehen, sondern im Wald nach Kräutern gesucht, als jemand sie überfallen und mit einem schweren Gegenstand auf den Hinterkopf geschlagen hatte – sicher ein geübter Schlag –, um sie dann aufzuheben und wegzutragen. Talmadge hielt sich nicht gern lange bei der Möglichkeit auf, dass Elsbeth entführt worden war, auf den Rücken eines Pferdes geschnallt, zu einem dunklen Zweck, den er sich meistens nicht im Detail vorzustellen erlaubte. Wie sollte der Verstand solche Mutmaßungen aushalten? Aber manchmal – am Morgen, gleich nach dem Aufwachen – hatte er das tiefe, ruhige, anscheinend bodenlose Vermögen, es sich dennoch vorzustellen. Das Grauen. Was war ihr zugestoßen, und was hatte er unternommen? Er hatte sie gesucht, aber war er sorgfältig genug gewesen? Hatte er lange genug

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