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Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Titel: Im Licht von Apfelbäumen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Coplin
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gesucht? Ihren Namen laut genug gerufen? (Dabei war er vom Rufen ihres Namens heiser geworden: Ihr Name, die Form ihres Namens in seinem Mund, tat weh – er konnte ihn ohne einen Stromstoß schrecklicher Reue, ohne echten körperlichen Schmerz hinten in der Kehle und im Mund nicht mehr aussprechen.) Wenn er in so einer Situation an sie dachte, wurden andere furchtbare Szenarien beinahe erträglich: Sie war in ein Loch gefallen, von einem Bären angegriffen worden, einem Puma. Von einer Naturgewalt getötet, blitzschnell, und nicht von der Hand eines Fremden.
    Er ging mit der Axt am Aprikosengarten vorbei, den Hang hinunter, überquerte den Bach, dann das Feld. (Vielleicht hatte sie sich einem Zirkus angeschlossen.) Lange Immergrünscheite lagen in der Nähe des Waldrandes aufgeschichtet. (Oder sie war, einem ihm bislang unbekannten Impuls gehorchend, einer religiösen Gruppe beigetreten; eine Nonne, oder ein Freund der Kirche, hatte sie sanft entführt.) Er brachte den Morgen damit zu, einen kompletten halben Baum zu zerlegen, stand dann schwitzend da und betrachtete den zerteilten Stamm. (Vielleicht hatte sie ihm eine Nachricht hinterlassen, die vom Wind aufgewirbelt und davongetragen worden war und jetzt in einem Ritz oder Spalt steckte, den er noch finden musste.) Er ging über das Feld zurück zum Bach. (Aber es gab keine Nachricht; sie konnte weder lesen noch schreiben.) Als er sich hinkniete und Wasser ins Gesicht spritzte, tauchten vor seinem inneren Auge die Rehe auf, die kürzlich in den Aprikosengarten eingedrungen waren. Er trank aus dem Bach und richtete sich wieder auf. Das Blut hämmerte in seinen Ohren, und er ging zum Waldrand zurück, wo der zerlegte Baum lag. Er wuchtete jeden einzelnen runden Block auf einen Baumstumpf und begann, ihn zu Kleinholz zu hacken. (Würde er je erfahren, was mit ihr geschehen war?) Die Geräusche des Baches wurden von der Reihe riesenhafter Bäume hinter ihm gedämpft. (War es eine Frage der Geduld, ob er es je herausfinden würde? Oder des Charakters? Hatte eine Macht – Gott? – ihm das Wissen bisher verweigert, weil er nicht gut genug war?) Das Krachen der Axt, die das Holz zerteilte, hallte laut wider und durchschweifte den Himmel.
    Am Nachmittag untersuchte er den Zaun auf der Rückseite des Aprikosengartens. Der Stacheldraht war an einer Stelle, die er von der Veranda aus nicht sehen konnte, eingerissen. Er ging zwischen den Bäumen entlang und inspizierte sie. Äste waren abgebrochen, dort wo die Rehe sich wahrscheinlich auf die Hinterläufe gestellt hatten, um an die Früchte heranzukommen. Der Schaden war nicht groß, aber er würde in Zukunft besser aufpassen müssen. Manche Männer schossen die Rehe, die ihre Ernte plünderten, doch zu denen gehörte er nicht. Er fand es geschmacklos, ein Reh in einem Obstgarten zu schießen.
    Ein etwas schlimmer beschädigter Baum am Ende der Reihe war ein Setzling, den er im vorigen Frühling gepflanzt hatte. Er kniete sich auf den Boden und berührte seine Äste.
    Im Schuppen neben der Scheune lagerte er diverse Apfel-, Pflaumen- und Aprikosensetzlinge. Sie wuchsen stufenweise in Tontöpfen. An Sommernachmittagen stellte er einen Tisch unter die Traufe der Hütte und arbeitete an ihnen. Er beeinflusste ihre Form, um nach seinen Vorstellungen Geflechte zu schaffen, manipulierte die winzigen, zweigähnlichen Äste auf vielfältige Weise. Jungsein brachte den Vorzug besseren Sehvermögens mit sich, was sich als zwingend notwendig erwies, als er das Handwerk erlernte und auf gute Augen ebenso angewiesen war wie auf gute Koordination; doch nun, zwar nicht blind, aber doch um einiges kurzsichtiger als früher, verließ er sich schon seit Jahren allein darauf, wie die Zweige sich zwischen seinen Fingern anfühlten. Die unzähligen Vorgänge und Eingriffe waren ihm in Fleisch und Blut übergegangen, alle Arbeitsschritte flüssig und präzise.
    Wenn die Setzlinge so weit waren, pflanzte er sie am Ende einer Baumreihe in den Boden. Er wachte ständig über sie, errichtete Holzspaliere, um sie während der prekären Wachstumsphase zu stützen. Manche seiner Experimente scheiterten, wurden vom Wetter oder von widrigen Umständen zerstört. Andere jedoch gediehen prächtig.
    Im Schuppen sah er jetzt die Aprikosensetzlinge durch, wählte einen aus und trug den Tontopf, in dem er steckte, über den Rasen zur Plantage. Er kniete sich hin, untersuchte den zerbrochenen Ast und verglich ihn mit den Ästen des gesunden Setzlings.

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