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Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Titel: Im Licht von Apfelbäumen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Coplin
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gesagt, sie solle sich dort hineinsetzen.
    Das hatte sie nicht vorhergesehen. Er wollte, dass sie flüchtete! Bei aller Verwirrtheit – und extremen Verblüffung – erkannte sie natürlich die verheißungsvolle Gelegenheit, die er ihr da bot. Unwillkürlich war sie ins Wanken geraten. Sie wollte Michaelson nicht zurücklassen, aber – was war mit diesem anderen Weg?
    Als sie über das Wasser blickte, wurde ihr klar, dass es keinen anderen Weg gab. Die Flucht würde sie nur noch weiter von Michaelson wegführen, deshalb konnte sie nicht darauf eingehen. Sie empfand vage Dankbarkeit für das, was der alte Mann für sie zu tun bereit war – und das Mädchen hatte ihm geholfen, das weckte ihr Interesse –, doch letztlich spielte es keine Rolle, was Talmadge wollte. Sie hatte sich entschieden. Sie wusste, was
sie
 – Della selbst – wollte.
    Der Wärter, der sie auf dem Schiff festnahm, hätte grob mit ihr umgehen können, doch das tat er nicht. Er war kühl, sogar ein wenig respektvoll. Als er sie von Deck führte und sie sich der Brücke näherten, rief er einem anderen Wärter zu: Ich hab sie!, und Della sah Frederick am Bug stehen und über den See schauen. Ihre Blicke trafen sich kurz. Er würde glauben, die Flucht sei ihre Idee gewesen, und sie für einen Feigling halten.
    Der Mann neben ihr war nervös, aufgeregt: Er hatte einen entflohenen Häftling eingefangen. Zuerst war er noch einigermaßen ruhig gewesen, doch nun drang allmählich in sein Bewusstsein, was er gerade vollbracht hatte. Man würde ihm danken, sein Name würde in den Zeitungen stehen. Er wäre ein Held.
    Sie gingen auf die Menschenmenge zu – was war passiert? War jemand erschossen worden? –, und dann entdeckte Della ihn, in dem Moment, als er sich nur leicht bewegte: Clee.
    In einer plötzlichen Gefühlsaufwallung – aber was war das für ein Gefühl? – wollte sie ihn grüßen, doch er riss die Augen auf, schüttelte den Kopf, und der junge Wärter an ihrer Seite zerrte sie am Arm. He!, bellte Talmadge, und Della wandte sich ihm erschrocken zu und sagte: Ist schon gut, aber Talmadge rempelte den Mann an. Er wusste nicht, was er tat, dachte Della. Der Mann packte Talmadge, um ihn zu beruhigen, doch Talmadge stieß sich ruckartig von ihm ab, sodass der Wärter rückwärts stolperte und Talmadge, ohne Hut, mit zerzaustem Haar, mehrere Schritte von ihm entfernt war. Warum hatte er eigentlich nur ein Unterhemd an, dachte sie, bevor ihr einfiel, dass
sie
ja seine Jacke trug und dass er auch sein Hemd ausgezogen hatte, um ihre Handschellen damit zu verdecken. Wie er jetzt so dastand, heftig atmend, war sein Blick unergründlich. Um sie herum riefen und drängelten Leute. Er war wie ein Kind, dachte sie. Ein Kind, das plötzlich nicht mehr weiß, woran es ist.
    Unwillkürlich bewegte sie sich auf ihn zu.
    Della!, rief Frederick irgendwo hinter ihr. Aber sie drehte sich nicht um.
    Della!
    Und dann ein Schuss. Sie fühlte direkt über ihrem rechten Ellbogen einen Schmerz – der sich gleich darauf in Kälte verwandelte. Sie verdrehte sich, um die Rückseite ihres Armes sehen zu können: blutgetränkter Stoff. Aber ihr war nichts Schlimmes passiert, dachte sie, während ihr Herz wie verrückt klopfte. Die Kugel hatte sie nur gestreift.
    Und auf einmal – wie war es möglich, dass sie es vorher nicht bemerkt hatte? – lag Talmadge auf dem Boden vor ihr. Zwei Wärter, der eine davon war Frederick, rannten zu ihm, beugten sich über ihn.
    Sie trat einen Schritt vor, wurde jedoch von hinten gepackt und grob zurückgerissen.
    Talmadge!, brüllte sie und versuchte, sich aus dem Griff zu befreien. Talmadge!
    Im nächsten Augenblick eilte jemand – eine junge Frau – aus der Menge auf Talmadge und die Wärter zu. Frederick streckte einen Arm aus, um sie zurückzuhalten. Als die Frau erneut versuchte, zu Talmadge vorzudringen, schüttelte Frederick sie ab – sie hatte sich an seinen Arm geklammert –, drückte mit dem Handrücken gegen ihre Brust und schubste sie weg. Verzweifelt unternahm sie einen zweiten Versuch, indem sie unter Fredericks Arm hindurchtauchte. Doch Frederick erwischte sie an der Schulter und schleuderte sie zur Seite. Zurücktreten!, rief er in die Menge. Alle zurücktreten! Das Mädchen streckte die Hände vor sich aus – erschüttert, flehentlich, so als bete sie. Dann ließ sie sie fallen.
    Das Mädchen – es war Angelene – wandte den Kopf nach links und rechts, langsam, aber panisch, Hilfe

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